Gemordet wird immer
für Ordner ging er durch. Vor seinen müde werdenden Augen zogen Versicherungspolicen und Steuerjahresausgleiche vorbei, Kolonnen von Zahlen, die ihm nichts bedeuteten. Einen nach dem anderen legte er beiseite. Er untersuchte die Schubladen, fuhr mit den Händen über die Unterseiten, rückte den Schreibtisch von der Wand und klopfte die Rückwand ab. Nichts. Keine Spur vom Tagebuch seiner Schwester, keine Spur von ihr überhaupt. Als hätte es sie niemals gegeben. Von sich selbst fand Viktor die Geburtsurkunde, die Schulzeugnisse nach Jahrgängen sortiert, das Heft mit den Vorsorgeuntersuchungen, den Kinderausweis und ein paar Passbilder, die ihn mit Pickeln und abstehenden Ohren zeigten, die Ausbildungsversicherungspolice, tja, die war dann wohl vergebens gewesen. Aber von Hannah: nichts.
Der Schminktisch seiner Mutter war so, wie er ihn in Erinnerung hatte. Wie oft hatten Hannah und er davor gesessen und die Schätze besichtigt, die es hier zu sehen und zu riechen gab, Hannah mit aufrichtiger Begeisterung, er aus Loyalität gegenüber seiner Schwester. Da waren kleine Parfumpröbchen mit fremdartigen Namen, Andenken an die Hochzeitsreise nach Paris, spitzenumhäkelte Taschentücher, eine Mantilla aus einem Spanienurlaub, an den er keine Erinnerungen mehr hatte, die falschen Brillanten, die sie zu Hannahs Abschlussball getragen hatte, eine echte Straußenfeder, lange Satinhandschuhe, das strassbestickte Abendtäschchen, glitzernd wie für eine Prinzessin. Hannah wollte diese Dinge immer tragen, später einmal, wenn sie selber tanzen ginge. Es kam nie dazu.
All das gab es noch. Die Dinge waren alt geworden, verblasst, verstaubt und bedeutungslos. Oder vielleicht waren sie das immer schon gewesen. Neue waren hinzugekommen und erzählten ihre Geschichte: eine angebrochene Packung Schlaftabletten, Johanniskrautkapseln und ein weiteres Medikament, das sich nach ausgiebigem Studium des Beipackzettels als Antidepressivum herausstellte – schamhaft verborgen unter stützenden Strümpfen und Taschentüchern. Viktor legte alles so zurück, wie er es vorgefunden hatte.
Auf dem Nachttisch sah er einen Liebesroman, mit sorgfältig eingelegtem Lesezeichen auf Seite zwanzig und einer Staubschicht auf dem Titel. Wie lange nahm sie die Pillen schon, fragte Viktor sich. Seit er fort war? Seit Hannahs Tod? Inzwischen war es fast vier Uhr morgens, und die Müdigkeit hatte ihn nun fest im Griff. Er beschloss, zurück ins Bett zu gehen und alle Probleme auf den kommenden Tag zu verschieben.
Nur der Vollständigkeit halber zog er noch die Nachttischschublade seines Vaters auf, die nie andere Geheimnisse verborgen hatte als zusammengelegte schwarze Socken und gelegentlich eine Tube Hornhautsalbe.
Er sah es sofort, den rosafarbenen Einband, die Glitzerblumen und die verschnörkelte Aufschrift, die Hannah so liebevoll und sorgsam gepinselt und mit Spinnweben und Drachen verziert hatte: »Bis hierher und nicht weiter.« Es stach hervor zwischen den nüchternen Utensilien seines Vaters, auch wenn es rußverschmiert und halb verbrannt war. Mit zitternden Händen zog Viktor das geschändete Tagebuch heraus. Sein penibler Vater hatte es in eine durchsichtige Plastikfolie eingewickelt, vermutlich, damit es seine Wäsche nicht beschmutzte. Viktor packte es aus. Er zögerte einen Moment, ehe er es wagte, die Seiten aufzuschlagen. Sie waren verbrannt, zerfetzt, zerfallen. Unwillkürlich stieß er einen leisen Schrei aus. Auf manchen waren noch Worte zu erkennen, ehe die Farbe des Papiers über gelb zu schwarz wechselte und schließlich alles zusammengeschrumpft war. Noch während er blätterte, rieselte es zwischen seinen Fingern hindurch, und seine Fingerkuppen verfärbten sich schwarz. Einzelne Passagen, das konnte er erkennen, waren von irgendjemandem – vielleicht von Hannah, vielleicht von seinem Vater – vorsätzlich geschwärzt und unleserlich gemacht worden. Die letzten Seiten schließlich, nach denen er geradezu gierig blätterte, fehlten ganz. Er sah noch die Stellen, wo sie herausgerissen worden waren. Viktor ließ die Arme sinken.
Dieses Buch war Hannahs Heiligtum gewesen, ihre Stimme, die durch all die Zeit zu ihm hätte sprechen können. Wer um alles in der Welt hatte den Hass, die Brutalität aufgebracht, die Existenz seiner Schwester so gründlich zu vernichten?
Mit einem Mal packte ihn die Wut. Er riss die Schublade aus ihrer Halterung, kippte die Socken darin über den Aktenberg, der sich schon auf dem Bett türmte,
Weitere Kostenlose Bücher