Gemordet wird immer
»Ich habe den Fall gelöst.«
»Ach wirklich? Wie ein echter Sherlock?«
»Präzise, Watson.« Er schaute sie noch immer nicht an.
Miriam Wechsler betrachtete ihn von der Seite. »Der tote Professor unterhielt einen Konversations-Kreis«, sagte sie. »Das weiß ich, weil ein Verwandter von mir da mitmacht.«
»Und mir ist das ebenfalls bekannt, danke sehr. Im Übrigen habe ich die Adressen aller Teilnehmer.«
»Mein Verwandter ist Gerichtsmediziner.« Sie hielt eine Visitenkarte hoch.
Viktor wandte den Kopf ein wenig. »Sie meinen …?«
»Präzise, Sherlock. Er hat mir erzählt, wie sehr er es bedauert hat, einen Dichtergefährten auf dem Seziertisch liegen zu sehen.« Sie ließ die Karte zwischen ihren Fingern tanzen.
Viktor zögerte, dann schüttelte er den Kopf. »Er wurde von einem Kind mit einer Beretta erschossen. Einem Rotzlöffel mit Arschfax.«
Sie schwieg missbilligend.
»Was ist? Das ist Jungdeutsch für heraushängendes Wäscheetikett.«
»Hab ich was gesagt?« Sie blies sich in die kalten Finger. »Mein Onkel hat mir allerdings was ganz anderes erzählt.«
»Über Arschfaxe?«
Sie wandte sich ihm zu und schaute ihn vorwurfsvoll an. »Über Berettas«, sagte sie und hielt ihm die Karte noch einmal hin.
Er pflückte sie aus Miriams halberfrorenen Händen. »Ich muss ihn sprechen«, sagte er.
Miriam Wechsler neigte den Kopf und lächelte. »Können Sie dichten?«
»Ich kann Rilke.«
»Das wird nicht genügen. Es muss schon ein Haiku sein.«
Viktor dachte an seinen Sensei. »Wenn es auch in Japanisch geht.«
Ihre Augen wurden noch ein wenig größer. »Das, das wäre sicher fantastisch. Japanisch, meine Güte. Ich meine, ich werde ihn gleich anrufen.«
Sie gingen langsam auf das Tor zur Straße zu, während sie am Handy mit ihrem Onkel sprach. Dabei hängte sie sich bei Viktor ein. Er ließ es zu, ohne die Hände aus den Taschen zu nehmen. Schließlich legte sie auf. »Wie ich mir dachte; er kann es kaum erwarten. Wir sollen noch heute Abend vorbeikommen.«
»Wieso wir ?«, fragte er.
»Glauben Sie, ich lasse mir das entgehen?«, entgegnete sie und steckte energisch das Handy wieder in ihre Tasche.
»Es wird wohl Zeit, dass wir uns duzen, oder?«, sagte er und wandte sich ihr zu.
»Du solltest nicht so lächeln. Man denkt dann, du öffnest einem dein Herz, dabei versteckst du es nur besonders erfolgreich.«
Sauer starrte Viktor auf seine Füße. Kaum gab man ihnen den kleinen Finger, schon wurden sie persönlich. Was sollte man dazu jetzt sagen? So ein Kitsch. Er ging schnell los, ehe sie sein Schweigen noch für Zustimmung hielt.
Sie lief hinterher und passte sich seiner Schrittlänge an. »Woran ist deine Schwester gestorben?«, fragte sie.
»Sie ist nicht gestorben.« Viktor blieb abrupt stehen. »Sie wurde ermordet.«
18
»Der Pfarrer? Nicht möglich?« Viktors Tante legte kurz die Hand auf den Telefonhörer, als Viktor hereinkam. »Ich hab dir Schnittchen gemacht«, flüsterte sie. »Der Arme«, sagte sie dann wieder in normaler Lautstärke in den Hörer hinein. »Er hat ja die Kinder noch alle gefirmt. Ja? Ach Gott.« Als sie das Gespräch beendet hatte, folgte sie ihrem Neffen in die Küche. »Pfarrer Bauer ist gestorben«, stellte sie fest. »Erinnerst du dich? Ich glaube, du warst sogar bei ihm Ministrant.«
»Ich war nie irgendwo Ministrant.« Viktor kaute.
»Wolfgang ist gerade bei ihm. Er sagt, du sollst die Rede schreiben. Es gibt wohl eine Art handgeschriebener Lebenserinnerungen, das wird helfen, nicht wahr? Ach, der arme Mann. So unerwartet. Dabei war er die Stütze der Gemeinde. Hast du nicht auch bei ihm im Chor gesungen?«
»Ich habe nie irgendwo gesungen.« Viktor kaute schneller und schob den Stuhl zurück. »Ich werd dann mal die Kleine fertigmachen.«
»Bringst du Tobias eine Cola mit runter?«, fragte sie.
»Tobias ist unten?«
»Er ist ganz verrückt auf Cola. Fast so sehr wie auf Fotos.«
»Sind die Stifte mittlerweile denn nicht spitz genug?« Viktor nahm die kleine Flasche entgegen.
»Aber er spitzt doch nicht bloß.« Hedwigs Gesicht strahlte vor Stolz. »Er schminkt. Er ist ein Meister im Schminken, es ist ganz bemerkenswert. Keiner bekommt ein Gesicht so lebendig hin wie Tobias. Es liegt daran, dass er sich so gut auf die Details konzentrieren kann, denke ich.«
»Kann ich auch eine Cola haben?«
Den ganzen Weg die Treppe hinunter fragte Viktor sich, warum ihm so flau im Magen war. Er blieb stehen und schraubte die Flasche auf, um einen
Weitere Kostenlose Bücher