Generation Laminat - mit uns beginnt der Abstieg
der ehemalige Resistance-Kämpfer Stéphane Hessel, der 2010 mit seiner kleinen Streitschrift Empört euch! für Furore sorgte. Hessel hat das Konzentrationslager Buchenwald überlebt und nach dem Krieg als Diplomat an der Erklärung der Menschenrechte mitgearbeitet. Für ihn ging es nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs darum, die Menschheit dauerhaft vom Gespenst des Totalitarismus zu befreien. 25
25 Stéphane Hessel: Empört euch!, S. 14
Menschen wie Pierre Bourdieu und Stéphane Hessel wissen die gerechteren Verhältnisse, die der Sozialstaat in vielen gesellschaftlichen Bereichen geschaffen hat, in ihrer voller Dimension zu ermessen: dass sie Menschenleben retten. Tony Judt prägte daher den Begriff »social democracy of fear«, der meint, wenn man schon nicht aus Verantwortung oder Gerechtigkeitssinn oder Solidarität oder Nächstenliebe oder sonst einem romantischen Quatsch für ein soziales Gemeinwesen einstehen wolle, dann solle man es aus Furcht tun. Denn die Vorstellung, was passiert, wenn dieses Gemeinwesen zusammenbricht und Menschen flächendeckend zu der Überzeugung gelangen, nur jenseits des Staates sei das eigene Heil zu finden, diese Vorstellung ist furchteinflößend.
Für Menschen wie mich war diese Dimension nie sichtbar. Ich kannte die Menschenrechtserklärung nicht. Und wenn ich sie doch – was wahrscheinlich ist – in irgendeiner Sozialkundestunde kennengelernt haben sollte, so erschien sie mir nicht wichtig. Und zwar deshalb, weil ich sie nicht mit meinem eigenen Leben verknüpfen konnte. Was hatten Krieg, Terror, die Flucht meiner Mutter, die Menschenrechtserklärung und Tarifverträge damit zu tun, dass ich mit meinen Eltern in Urlaub fahren konnte und regelmäßig zum Zahnarzt gehen musste? »Für die Nachkriegskinder war der Wohlfahrtsstaat keine Antwort auf alte Probleme, sondern normaler und langweiliger Alltag.« 26
26 Tony Judt: Dem Land geht es schlecht, S. 73
Seit ein paar Jahren ist dieser Alltag erstmals sichtbar ins Stocken geraten. Jedenfalls für Menschen wie mich. Der Fahrstuhl fährt nicht mehr ausschließlich nach oben. Erstmals seit dem Krieg macht sich auch die Mittelklasse Sorgen.
Warum? Weil man merkt, dass dieses Gesellschaftsmodell an seine Grenzen stößt und man sich nicht mehr darauf verlassen kann, dass »das« immer so weitergehen wird.
Woran man das merkt? An den Stolpersteinen.
»Wir müssen uns mehr anstrengen, um weniger zu erreichen«
»Wir sind von unseren Eltern an den Startblock gesetzt worden«, sagt Anna. Die Strecke vor uns schien nicht allzu schwieriges Terrain zu sein. Das Ziel: ein Leben wie unsere Eltern. Vielleicht ein bisschen besser.
Da sind wir also losgerannt. »Dann haben wir unser Studium gemacht, haben eine Arbeit gesucht, uns kennengelernt und Kinder gekriegt, das war alles so zack, zack, zack.«
Und dann kamen die ersten Stolpersteine. Jörg, Annas Ehemann, war Teilhaber einer Softwarefirma und verdiente bis zur Dotcom-Blase im Jahr 2000 in der IT-Branche gutes Geld. Als das nach und nach immer weniger wurde, verkaufte er seine Firmenanteile und arbeitete in wechselnden Jobs als Vertriebsleiter. Dort verdiente er bis zu 80000 Euro im Jahr. Der vierköpfigen Familie ging es finanziell gut – bis Jörg mit Mitte vierzig überraschend gekündigt wurde. »Aus dem Nichts! Zum Gespräch gebeten worden und nichts geahnt, nichts gewusst. Zwei Stunden später alles abgewickelt, Übergabe gemacht, die Firma verlassen. Ich fuhr nach Hause, und alles war weg. Zack, freigestellt, sofort.« Sein einziger Fehler: als Letzter eingestellt worden zu sein. »Das konnte ich ja nicht persönlich nehmen, denn wenn einer nach mir gekommen wäre, hätte es wohl den erwischt.«
Weil Jörg nur wenige Monate in der Firma gearbeitet hatte, hatte er nur Anspruch auf sechs Monate Arbeitslosengeld I. Danach drohte der Bezug von Hartz IV. Meine zahlenliebende Freundin Anna führte in dieser Zeit eine Excel-Tabelle, »eingeteilt in Minimum und Maximum, die für mehrere Szenarien die Finanzen abbildete: Wenn wir nur noch fünfhundert Euro haben, dann müssen wir diese und jene Lebensversicherung aufgeben. Wenn wir Arbeitslosengeld haben, dann können wir dieses und jenes behalten. Wenn Jörg wieder einen Job kriegt, geht dies oder das.« Viereinhalb Monate musste Anna diese Tabelle führen, denn Jörg, der eine Banklehre und ein Informatikstudium absolviert hat, fand keinen Job. »Wir gingen sogar zur Hartz-IV-Infostelle in Mannheim. Die waren etwas
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