Generation Laminat - mit uns beginnt der Abstieg
man nur auswandern, wenn man seine eigene Ölquelle mitbringt.«
Franz Segbers war schon längst dort, wo ich unsicher hinsteuerte. Er konturierte mein Gefühl durch Zahlen, Fakten, Daten. Er kannte die OECD-Statistiken und DIW-Untersuchungen, die ich mir später erst mühselig aneignen musste. Dieser gläubige, gut gelaunte und gebildete Herr stellte interessante Fragen, etwa warum die Einkommenselite überhaupt ein Interesse an einer gerechteren und für sie mit Verlusten verbundenen Einkommensverteilung haben sollte. Warum sollten Unternehmen ein Interesse daran haben, höhere Produktionskosten und damit Nachteile auf dem Markt in Kauf zu nehmen, um umweltverträglicher zu produzieren?
»Na ja«, stammelte ich, »weil …«
»Ja?«, lächelte Franz Segbers. Ja, warum eigentlich, dachte ich und merkte, dass ich keine Argumente, sondern nur sozialromantische Wunschvorstellungen hatte. Mein vages Gefühl bekam an diesem Tag eine Gestalt. Franz Segbers nannte Autoren, Studien, Bücher, die ich lesen konnte. Und er verwendete bei dem Spaziergang, in den der Brunch mündete, den Begriff der »ohnmächtigen Wut« als Beschreibung der Gefühlslage, in der sich ein Großteil der Bevölkerung befände. Nachdem er diese Worte ausgesprochen hatte, spürte ich geradezu körperlich die Erleichterung darüber, endlich einen Namen, eine Bezeichnung für das zu besitzen, was ich fühlte. Denn das war »ohnmächtige Wut«. Oder etwa nicht? Als ich anfing, diesem Gefühl hinterherzuforschen, kam ich zu dem Schluss, dass es sich bei meiner Gefühlslage zwar um Ohnmacht handelte, aber nicht gepaart mit Wut, sondern mit Ärger. Das ist ein großer Unterschied: »Wut ist ein echter Unterbrecher – und deshalb nicht zu verwechseln mit Ärger. Ärger ist ein Begleiter. Er ist wie das Jammern, ein hinkendes Hündchen, das alles kläffend oder jaulend kommentiert, aber gleichzeitig mit dem Schwanz wedelt und weiterhumpelt, um den Anschluss ans Herrchen nicht zu verlieren. Ärger ist deutlich distanzierter, er bezieht sich in der Regel auf ein nicht befriedigtes Bedürfnis und sein Erregungspotenzial ist geringer.« 150
150 Theresia Volk: Unternehmen Wahnsinn, S. 171
In der Tat: Ich habe mich jahrelang kläffend darüber geärgert, dass ich in einer Mietwohnung auf Laminat wohne, dass andere sich eine Eigentumswohnung mit Parkett und ein größeres Auto und weitere Flugreisen, eine private Krankenversicherung und einen Ausbildungsfonds für ihre Kinder leisten können, ich habe mich darüber geärgert, dass ich so viel arbeiten muss und dafür nicht angemessen entlohnt werde, jedenfalls nicht, wenn man Computerspezialisten, Ingenieure oder Risikomanager in der Bank als Maßstab nimmt, obwohl Letztere doch in großem Maßstab versagt haben. Ich habe mich darüber geärgert, dass ich den sozialen Anschluss an diejenigen verlieren könnte, denen ich mich kraft meiner Herkunft zugehörig fühlte, und hatte zugleich Angst davor und habe dagegen angekämpft, indem ich noch mehr gearbeitet und noch mehr den Eindruck gewonnen habe: Es ist sinnlos. Ich kann es doch nicht ändern.
»Das, was man denkt und fühlt und tut, hat keine Konsequenz.« So beschreibt Sandras Freund Jürgen dieses Gefühl. Es besteht aus einem Mangel an erwarteter Selbstwirksamkeit. »Jürgen und ich haben beide nicht angenommen, dass wir gezielt Einfluss auf die Dinge und die Welt nehmen könnten. Was man tut, hat immer weniger Auswirkung auf irgendwas.« Jürgen hat für dieses Gefühl ein schönes Bild gefunden: Verebben. »Dieses Gefühl von Ohnmacht entsteht ja nicht nur dadurch, dass man große Strukturen nicht ändern kann«, sagt er, »sondern dadurch, dass man selber in dem, was man tut, irgendwo verebbt.«
Diese Art der Selbstverebbung findet in Jürgens Leben vor allem in seinem Beruf statt.
»Da ist ein Gefühl der Ohnmacht, das für mich irgendwie noch viel, viel stärker ist als Fukushima und der ganze andere Ideologenkram. Das meine ich damit, dass das eigene Handeln keine Konsequenzen hat. Es interessiert sich eigentlich niemand dafür, was wir gelernt haben.«
Auch Sandra, Mitglied der »Generation Praktikum«, erlebt vor allen Dingen beruflich Frustration: »Die Praktika macht man ja auch freiwillig, dann denkt man schon, das System ist doof.« Aber auch Sandra kommt zu dem Ergebnis: »Die Sache ist eben, dass man als Einzelner nichts machen kann.«
Robert Castel bezeichnet die Arbeit als das Epizentrum der gesellschaftlichen Krise, die wir zurzeit
Weitere Kostenlose Bücher