Generation P
schon erkennen. Neben Tatarski trottete der Sirruf, Girejew saß auf seinem Rücken. Der Sirruf schien unlustig wie ein geschundenes Eselchen, die am Rücken gefalteten Flügel erinnerten an einen alten Filzsattel.
»Da bist du nun Sprüchemacher«, sagte Girejew, »und kennst den Spruch der Sprüche nicht. Der sozusagen allem zugrunde liegt.«
»Nein, den kenne ich nicht«, sagte Tatarski, blinzelnd von dem goldenen Licht. »Aber vielleicht sagst du ihn mir.«
»Ich sag ihn dir. Bestimmt hast du schon vom Jüngsten Gericht gehört?«
»Ja.«
»In Wahrheit kann von einem Gericht noch keine Rede sein. Die Ermittlungen laufen zwar schon lange, und alles, was uns geschieht, ist Bestandteil der Ermittlungen, Lokaltermin. Was kostet es den lieben Gott, die Welt mitsamt ihrer Ewigkeit und Unendlichkeit aus dem Nichts entstehen zu lassen. Und sei es nur für Sekunden. Und nur zu dem Zweck, eine einzige vor ihm stehende Seele zu prüfen.«
»Bitte, Andrej, es langt«, sagte Tatarski und schielte nach den schiefgetretenen Absätzen in den Steigbügeln. »Ich hab auf Arbeit genug Scheiße um die Ohren. Du mußt mir nicht noch was draufpacken.«
Das goldene Zimmer
Als man Tatarski die Binde von den Augen nahm, war er vor Kälte schon ganz starr. Was vor allem daher kam, daß er mit nackten Füßen über den Steinboden gelaufen war. Er stand im Eingang zu einem Saal, der wie das Foyer eines Kinos aussah und wo offenbar ein Empfang vonstatten ging. Der Raum war fensterlos; drei der Wände waren mit gelbem Marmor verkleidet, die vierte war in ihrer ganzen Breite verspiegelt, wodurch der mit grellem Halogenlicht beleuchtete Saal wesentlich größer wirkte, als er war. Die Gäste unterhielten sich leise und betrachteten die an den Wänden ausgehängten Blätter mit Schreibmaschinentext. Daß Tatarski splitternackt in der Tür stand, schien die Anwesenden nicht zu befremden – allenfalls zwei oder drei hatten bisher gleichmütig herübergesehen. Fast alle Gesichter im Saal hatte Tatarski viele Male im Fernsehen gesehen, doch keinen kannte er persönlich – mit Ausnahme von Varsuk Z. Valasnam, der mit einem Weinglas in der Hand an der Wand stand, und Asadowskis Sekretärin Alla, die sich angeregt mit zwei ältlichen Playboys unterhielt – mit ihrem wallenden, blondierten Haar sah sie aus wie eine leicht schamlose Medusa. Irgendwo in der Menge meinte Tatarski auch das karierte Jackett Morkowins gesehen zu haben; er hatte es jedoch gleich wieder aus den Augen verloren.
»Ich komme, ich komme!« jodelte auf einmal die Stimme Asadowskis, der eben aus dem Durchgang zu irgendeinem Hinterzimmer trat. »Da bist du ja. Was stehst du in der Tür? Komm rein, wir fressen dich nicht.«
Tatarski ging ihm entgegen. Asadowski roch nach Schnaps; im Halogenlicht wirkte sein Gesicht müde.
»Wo sind wir hier?«
»Zirka einhundert Meter unter der Erde – Fernsehzentrum Ostankino. Entschuldige die Augenbinde und all die Mätzchen – vor dem Ritual gehört es sich so, Tradition ist Tradition, was will man machen. Ist dir mulmig?«
Tatarski nickte, worauf Asadowski in ein zufriedenes Lachen ausbrach.
»Pfeif drauf! Alles Mache. Schau dich einstweilen ein bißchen um, wirf einen Blick auf unsere neue Sammlung. Hängt erst seit zwei Tagen. Ich hab noch ein paar wichtige Chats abzuhaken.«
Er hob die Hand und schnipste nach seiner Sekretärin.
»Da ist Alla, sie kann dir alles erklären. Das ist Babi Tatarski. Ihr kennt euch? Fein. Du zeigst ihm was, ja?«
Und er ließ Tatarski mit der Sekretärin stehen.
»Wo fangen wir an?« fragte sie lächelnd.
»Am besten beim Anfang«, sagte Tatarski. »Wo ist denn die Ausstellung?«
»Das ist sie doch«, sagte die Sekretärin und wies zur Wand. »Die spanische Sammlung. Wen von den großen Spaniern mögen Sie denn am liebsten?«
»Na, den. . .« Tatarski versuchte sich angestrengt an einen Namen zu erinnern. »Velázquez.«
»Ah, der macht mich auch immer besonders an«, sagte die Sekretärin, ihre grünen Augen blickten dabei kalt. »Der Cervantes des Pinsels, würde ich sagen.«
Sie nahm Tatarski dezent beim Arm und führte ihn zu dem Blatt an der Wand, in dessen Nähe sie gestanden hatten; dabei streifte ihr langes Bein seinen nackten Schenkel. Auf das Blatt war ein Text gedruckt, zwei, drei Absätze lang, mit einem blauen Stempel darunter. Die Sekretärin schien kurzsichtig zu sein, sie beugte sich nach vorn, um die kleine Schrift zu entziffern.
»Da haben wir es ja. Das Porträt des
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