Genesis. Die verlorene Schöpfung (German Edition)
Zentimeter vor ihr und machte keine Anstalten, ihr von der Seite zu weichen. Ihr Personenschützer hob jetzt beschwichtigend seine Hand und ging ganz langsam rückwärts. Auch seine Mates befanden sich im Sprung und bildeten einen Halbkreis um die beiden Frauen. Die Menge in der Nähe atmete zwar kurz auf, verstand aber erst ein Tick später, dass das Sicherheitsteam von Simin Navid mit einer weiteren Bedrohung umgehen musste. Die Menschentraube löste sich auf. Eine Leere entstand und Lea konnte immer weniger verstehen, vor was die jetzt noch Angst hatten.
„Ganz ruhig. Es gibt keinen Grund, etwas Dummes zu tun… ganz ruhig”, versuchte der englische Personenschützer zu deeskalieren. Er schaute Lea dabei an, als ob er sie mit einer blutigen Kettensäge im Buckingham Palast gestellt hätte.
„Was glaubt ihr eigentlich, was ich hier mache?” Lea war wütend. Jede Muskelfaser war angespannt. Simin stand immer noch direkt vor ihr, sie konnte deutlich deren Furcht riechen. Sie zitterte.
„Wir werden bestimmt eine Lösung finden. Zwingen Sie uns nicht zu schießen.”
Diese Blicke, die bedrohten Lea mit ihren Waffen? Die Agenten in der Menge hatten alle ihre neun Millimeter auf Leas Kopf gerichtet. Immerhin würde die Korsage nichts abkriegen. Die Welt war ein Irrenhaus… neun Millimeter… erst jetzt spürte sie das Griffstück der Walther an ihrem Oberschenkel. Durchgeladen und entsichert, neun Patronen im Magazin, eine im Lauf, unglücklicherweise war Leas Cocktailkleid vorhin in der Drehbewegung verrutscht und gab nun anscheinend mehr von der mit Klebeband befestigten Pistole preis, als ihr recht sein konnte. Schließlich stand sie neben einem der wichtigsten und meist bedrohten Menschen dieser Dekade.
„Lea. Die haben deine Waffe gesehen. Bitte, das macht die Jungs nervös… ” Paul schwitzte.
„Ich bin Personenschützerin. Ich bin keine Bedrohung. Ich gehe jetzt langsam zurück”, sagte Lea mit ruhiger Stimme. In diesem Bereich durften nur die Personenschützer von Simin Navid Waffen tragen, keiner dieses englischen Sicherheitsteams würde jemals wieder glücklich werden, wenn eine durchgeknallte Deutsche in Frankfurt Simin Navid in aller Öffentlichkeit niederschoss. Ob sie annahmen, dass Lea die Schläferin war? Sie selbst hätte es getan. Wenn sie an der Stelle der Personenschützer wäre, würde sie kein Risiko eingehen und der unbekannten bewaffneten Frau neben der Schutzperson eine Kugel in den Kopf jagen. Wer eine Waffe in einen Schutzbereich schmuggeln konnte, würde auch eine Sprengladung oder ähnliches auslösen können. Es war an der Zeit, der Wahrheit ins Auge zu sehen: Lea war am Ende des Weges angekommen.
In Zeitlupe streckte sie die Hände nach außen und wartete auf den Schuss. Das würde es gleich gewesen sein. In dieser Position würde sie sich nicht mehr wehren können. Länger hätte sie an deren Stelle nicht gewartet. Nur warum sollte man sich im Moment seines Todes noch zurückhalten? Gleich würde sie frei sein, die anderen waren die Verlierer, schließlich mussten die ihre Ketten noch weitertragen. Lea hob den Kopf und blickte dem blauäugigen Personenschützer in die Augen, sie glaubte sich selbst in seinen Augen gespiegelt sehen zu können. Der Moment fühlte sich an wie eine kleine Ewigkeit, sie sah ihre eigene Wut und all die dunklen Emotionen, die sie in den letzten Jahren tief in sich verstaut hatte. Als ob sich in diesem Augenblick alle Schlösser öffneten und jeder Moment der Angst, Wut und Rache, den sie jemals erlebt hatte, binnen eines Lidschlages durch ihre vernarbte Schale schlug. Lea hatte keine Angst mehr, die sollten besser sie fürchten.
„Sorry Ma’am.” Der englische Personenschützer zog Simin weg und stellte sich blitzschnell vor sie. Er senkte seine Waffe etwas. Die Augen blitzten auf. Ein Knall. Lea spürte einen Schlag in der Seite und flog durch die Luft. Die Korsage hatte es jetzt doch erwischt.
Die ganze Welt drehte sich und verstummte binnen weniger Momente. Im Gedanken schnappte sie nach Luft. Als ob sie von einem zentnerschweren Gewicht in die Tiefe gezogen wurde. Der Abend hätte anders laufen sollen. Dabei wären sie in achtzehn Minuten draußen gewesen. Es wurde dunkel, sie verlor das Bewusstsein.
***
Altstadt
Es regnete in Strömen. Draußen schaffte das Thermometer kaum die vier Grad Marke. Die Regentropfen prasselten auf das Dachfenster, konnten aber die Geräuschkulisse von der Straße nicht überdecken. Mit der Hand im
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