Genom
Beinverbesserung hinter sich gebracht hatte und sich in ihrem Vorzimmer seltsam unwohl zu fühlen schien, aber laut ihrer Empfangsdame darauf bestanden hatte, an diesem Tag als letzter Patient behandelt zu werden. Eine seltsame Bitte, dachte Ingrid, während sie ihn musterte. Normalerweise wollten all ihre Patienten, ob sie nun zahlen mussten oder nicht, so schnell wie möglich behandelt werden.
Er sah nicht krank aus. Sie musterte ihn, während er erst sie und dann ihr professionell eingerichtetes Büro bis hin zum makellos sauberen Fußboden betrachtete, um danach wieder sie anzublicken, und bezweifelte aber gleichzeitig, dass er jemals durch und durch gesund gewirkt hatte. Laut der ersten Tests und oberflächlichen Untersuchungen, die sie durchgeführt hatte, waren jedoch keine offensichtlichen Anzeichen für eine Krankheit zu erkennen. Der Mann hatte nicht einmal eine Kopfgrippe. Sie seufzte resigniert. Noch ein Hypochonder. Er war nicht der Erste, mit dem sie es zu tun bekam. Entgegen der allgemeinen Auffassung war die Hypochondrie auch kein Zustand, dem nur die Wohlhabenden anheimfallen konnten.
Doch er war an diesem Tag ihr letzter Patient, rief sie sich ins Gedächtnis. Da konnte sie die Untersuchung auch ruhig mit dem üblichen kompletten Ganzkörperscan abschließen. Der arme dürre Kerl hatte vermutlich seit Jahren keinen mehr gehabt, vielleicht war dies auch sein erster.
»Stellen Sie sich bitte hier drüben hin.« Sie hielt weder ein Klemmbrett noch ein Aufzeichnungsgerät in der Hand. Ein halbes Dutzend miteinander verbundener Rekorder, einige hochspezialisiert, waren in die Wände und die Decke des glänzenden, blassblauen Untersuchungszimmers eingelassenworden. Er nickte, kam ihrer Bitte nach und stieg die wenigen Treppen hinauf, bis er mitten im medizinischen Hauptscanner stand. Sie bat ihn nicht, sich auszuziehen. Das war gar nicht nötig. »Halten Sie still. Dieser Scan schließt die Untersuchung ab. Sie müssen die Luft dabei nicht anhalten.«
Er blinzelte nicht einmal, und sein Gesichtsausdruck blieb unverändert. Hätte sie ein altmodisches Klemmbrett in der Hand gehabt, dann hätte sie darauf vermerkt: » Letzte Operation des Patienten: Humorentfernung. «
Sie lehnte sich in den selbstangetriebenen Drehstuhl zurück, mit dem sie sich durch leichte Gewichtsverlagerungen durch das ganze Büro bewegen konnte, und studierte die Anzeigen, als die Informationen vom Körperscanner erfasst und übertragen wurden. Blutdruck: leicht erhöht. Puls: schneller, als er sein sollte, aber innerhalb tolerierbarer Parameter angesichts des angegebenen Alters des Patienten. Vorhandensein entdeckter Melds: obere und untere Beinsehnen, Haarfollikel, Augenpartie und Augäpfel … Es war weder eine lange noch eine bemerkenswerte Liste. Im Vergleich zu dem, was sie jeden Tag sah und verarzten musste, hatte dieser Mann eher geringe biochirurgische Eingriffe machen lassen.
Körperfett, Körperproportionen, Muskeldichte, Vorhandensein notwendiger Spurenelemente im Blut, Funktion von Nieren, Leber, Milz, Herz, Hoden, Nervenaktivität, kognitive Funktionen, Verdauungssystem – nach und nach maß, analysierte und meldete der Körperscanner die Informationen über den Allgemeinzustand des Untersuchten. Während sie den Datenstrom durchging und sich ein Bild über den Gesundheitszustand ihres Besuchers machte, dachte Ingrid bereits wieder daran, wie schön es sein würde, in möglichst wenig Kleidung am warmen Strand zu liegen, dabei möglichstwenig zu tun und möglichst viel zu trinken. Sie ging in ihrer Fantasie fast völlig auf, während sie die Informationen las, verdaute und darüber nachdachte.
Bis sie vom Alarm aus ihren Träumen gerissen wurde.
9
Ingrids Tagtraum verblasste augenblicklich. Die gleiche Professionalität, die es ihr ermöglichte, Patienten zu untersuchen und zu behandeln, während sie ihnen nur die halbe Aufmerksamkeit schenkte, riss sie abrupt wieder in die Gegenwart zurück, um ihr klarzumachen, wo sie sich befand und was sie gerade tat. Sie brachte den andauernden Alarm mit einem ausgesprochenen Befehl zum Verstummen und wandte sich jetzt ganz ihrem Besucher zu. Im krassen Gegensatz zu ihr schien ihn der Alarm weder überrascht noch erschreckt zu haben. Seine ausbleibende Reaktion sprach Bände. Seine Haltung schien irgendwie entschuldigend zu wirken. Sie verspannte sich innerlich.
»Sie wussten, dass das passieren würde.«
Whispr nickte, ohne ihr in die Augen zu sehen. »Ich hatte so
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