Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Gérards Heirat

Titel: Gérards Heirat Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: André Theuriet
Vom Netzwerk:
Vater auf.
    »Schreibe mir recht lange Briefe!« sagte der gute Mann mit thränenerstickter Stimme.
    »Vorwärts!« rief Marius, der sich die größte Gewalt anthat, um nicht zu weinen; »es wird spät, und wir dürfen den Zug nicht verfehlen.«
    Helene kletterte unter das Verdeck des Wagens, der in leichtem Trab davonfuhr. Um nicht durch die Stadt fahren zu müssen, machte Marius einen Umweg über die Landstraße nach Combles. Sie erreichten die Wälder gerade als die Abendglocke neun Uhr läutete. Beide schwiegen: man vernahm nichts als den Hufschlag des Pferdes auf der Landstraße und das Knallen der Peitsche, die Marius ziemlich aufgeregt handhabte. Plötzlich sagte er zu seiner Schwester: »Also du willst nicht, daß ich Gérard benachrichtige?«
    »Nein, ich bitte dich!« antwortete Helene entschlossen.
    Marius, der sich über die Standhaftigkeit seiner Schwester zu ärgern schien, begnügte sich, ein dumpfes Brummen hören zu lassen, und damit schlief die Unterhaltung wieder ein.
    Als sie auf dem höchsten Punkte der Hochebene angelangt waren, warf der Mond, der plötzlich am Horizont aufging, einen langen Lichtstreifen über die Wipfel des Waldes und beleuchtete die Dächer eines Meierhofes.
    Marius stand von seinem Sitze auf und deutete mit der Peitsche auf die Giebel, die sich am Himmel abzeichneten,und brummte in seinen Bart: »Da sieht man schon die Dächer von Groß-Allard ... Und zu denken, daß der arme Gérard sich dort zu Tode langweilt, ohne zu ahnen, daß wir auf Büchsenschußweite an seiner Stätte vorbeifahren!«
    Helenens Herz pochte heftig; sie konnte es nicht lassen, sie mußte sich auf ihrem Sitz aufrichten und nach der bezeichneten Richtung blicken. Dank dem hellen Mondenschein konnte man deutlich die Meierei mit ihren vom Gehölz umschlossenen Feldern, ihren niedrig gebauten Scheunen und das Türmchen des Taubenschlages unterscheiden. Der sehnsüchtige Blick des jungen Mädchens umfaßte all diese Einzelheiten. Sie hätte nur ein Wort zu sagen gebraucht und Marius hätte sich nicht lange bitten lassen, sein Pferd nach dem Hofe zu lenken, Sie würde Gérard überrascht haben, wie er nachdenklich in der Herdecke in der Küche saß; sie hätten sich einmal noch die Hand gedrückt ...
    Die Versuchung war groß und einen Monat früher wäre sie ihr sicherlich erlegen; aber der Kummer der letzten Tage hatte ihren Verstand gereift und die übermütige Ader, die sonst in ihrem Köpfchen schlug, schien erstorben zu sein. Sie preßte die Lippen zusammen, schloß die Augen, lehnte sich in ihre Ecke zurück und begnügte sich damit, zu ihrem Bruder zu sagen: »Treibe das Pferd an; wir kommen sonst zu spät auf den Zug!«
    Marius ließ ein langgezogenes Pfeifen ertönen und das Pferd fiel in Trab.
    »Es ist doch etwas Erstaunliches um die Frauen,« rief Marius aus und betrachtete seine Schwester von der Seite ... »in ihnen liegen so viele geheimnisvolle Züge verborgen, daß ich sie nicht zu enträtseln vermag.«
    »Auf wen beziehst du diese Bemerkung?« fragte Helene leise.
    »Auf dich, zum Kuckuck! ... Du verläßt Juvigny ohne Sang und Klang, um Kinder zu lehren, wie man Augen und Ohren zeichnet; ich gebe zu, daß dies von Mutzeugt, aber schließlich denkst du gar nicht daran, was Freund Gérard leiden wird ... Immerhin liebt er dich, wenn er auch ein bißchen ein Hasenfuß ist, du scheinst dies aber gar nicht zu berücksichtigen.«
    Alle diese Betrachtungen drangen wie Pfeile in Helenens Herz, Sie hatte nicht den Mut zu antworten und beschränkte sich darauf, den Kopf abzuwenden, damit der Mondschein nicht die Thränen verrate, die ihre Augen füllten.
    »Ja,« fuhr der Dichter unbarmherzig fort, während er seinen Rosinante antrieb, »ihr Frauen seid anders geartet als wir, ihr seid hart, ihr seid grausam, ihr versteht nicht zu lieben!«
    »Genug, Marius,« stammelte sie mit flehender Stimme, »du thust mir weh!«
    Sie verbarg ihr Gesicht im Hintergrund des Wagens und that, als ob sie schliefe. Infolge der schaukelnden Bewegung des Wagens und der letzten schlaflosen Nacht wurden ihre Lider nach und nach schwerer, ein Halbschlummer schloß die noch feuchten Augen. Es war mehr Betäubung als wirkliche Ruhe; beim geringsten Stoß öffneten sich ihre Augen wieder. Wie in einem Traume sah sie die Wälder, die sich am Rand der kahlen Felder erhoben, die Weinberge mit den leichtbewegten Reben, die Almen am Wege, deren Umrisse drohende Gestalten anzunehmen schienen, an sich vorüberziehen; dann kamen sie

Weitere Kostenlose Bücher