Gérards Heirat
»warum habe ich mir nicht lieber die Zunge ausgerissen? ... Jetzt begreife ich, warum diese sittsame Dame ihre Blicke so beständig auf mich gerichtet hielt! Sie hat meine dummen Reden aufgeschnappt und sich zu nutze gemacht ... Ach, meine arme, liebe Schwester, was soll nun aus dir werden, ach, ich erbärmlicher Mensch!« – Und der Riese Marius begann zu weinen wie ein Kind.
»Sei nicht betrübt,« sagte Helene, von seiner Verzweiflung gerührt, »wir sind alle schuld daran, und ich am meisten ... Ich bin dir nicht böse darum, alter Leichtsinn!« Sie klopfte ihm sanft auf die Schultern und versuchte seine Hände zu ergreifen.
»Zum Kuckuck!« zürnte Marius plötzlich, »diese Sache darf nicht auf sich beruhen bleiben ... Ich laufe nach Groß-Allard, Gérard ist ein Ehrenmann; wir suchen zusammen seinen Vater auf, und dieser ehrwürdige Perückenstock wird gern oder ungern seine Einwilligung geben müssen.«
»Du wirst dies alles nicht thun, Marius!« unterbrach ihn Helene mit Entschiedenheit.
»Wie?« rief der Dichter aufspringend, »du willst dich bloßstellen lassen, ohne die Genugthuung zu verlangen, die dir zukommt?«
»Ich will bleiben, was ich bin: ein anständiges Mädchen, und wünsche nicht, daß man mich mit Recht beschuldige, mir einen Skandal zu nutze zu machen, um mich zu verheiraten. Es ist unnötig, weiter darauf zu dringen,« fuhr sie fort und legte Marius, der Einwendungen erheben wollte, die Hand auf den Mund, »mein Entschluß ist gefaßt, ich habe an Frau Le Mancel geschrieben und reise heute abend nach Paris.«
Der verblüffte Dichter zuckte die Achseln. »Mein lieber Marius,« fuhr Helene fort, »du sollst mich hören und mir, zu deiner Strafe; gehorchen ... Wenn ich einmal abgereist bin, wird man mich vergessen, und um jeden Preis muß ein Skandal vermieden werden, der auf unseren Vater zurückfallen könnte. Denke daran, was aus unserer Familie werden würde, wenn er seinen Platz verlöre? ... Ich reise heute abend ab, wenn es Nacht ist; du wirst einen Wagen mieten und mich bis Blesmes begleiten, von wo ich mit der Eisenbahn weiterfahre ... Das ist noch nicht alles, du mußt mir schwören, Gérard nichts zu sagen, ehe ich es dir erlaube ... Ich will nicht, daß er irgend einen tollen Streich macht.« – Sie hielt einen Augenblick inne, nahm eine Feldblumenstudie von der Wand und fuhr dann fort: »Später, wenn sich alles beruhigt hat, gib ihm dieses kleine Bild zum Andenken an mich ... Es wird ihn an unsere schönen Spaziergänge mahnen ...«
Thränen erstickten ihre Stimme und ließen sie nicht weitersprechen, aber sie wollte tapfer bleiben bis zum Schluß und verschluckte sie energisch. Marius schloß sie voll Bewunderung in seine Arme, – »Ich bin nicht wert, den Saum deines Kleides zu küssen,« rief er, »aber es ist einerlei, wenn du nur wolltest ...«
Mit entschlossenem Blick unterbrach sie ihn: »Thu, was ich dir sage, laß mich allein und sprich hier von nichts vor dem Frühstück!«
Marius ging; Helene setzte ihren Hut auf und schlich sich durch eine abgelegene Straße in die Sankt Stephanskirche. Sie gehörte nicht zu den Frommen, aber sie hatte ihre eigene Religion voll kindlichen Aberglaubens und jäher Inbrunst. Sie ließ eine Kerze anzünden, die der Kirchendiener auf einen dreizackigen Kerzenstander steckte, auf dem zwei qualmende Lichterstümpfe im Verglimmen waren; dann kniete sie im Schatten nieder und verrichtete ein inniges Gebet. »Mein Gott, laß mein Gehen eine genügende Sühne sein; gib, daß ich allein für meine Fehler leide!« Sie wagte nicht, hinzuzusetzen: »Mache, daß Gérard mich nicht vergißt!« – aber dieser Wunsch erhob sich, unter den Schwingen ihres Gebetes, vom tiefsten Grund ihrer Seele. Als sie ihr Haupt wieder aufrichtete, schien ihr die alte Kirche noch kälter und düsterer als gewöhnlich zu sein. Der Christus, der zwischen den beiden Schachern am Kreuz hing, hatte einen so herzzerreißenden leidenden Ausdruck und der schwarze marmorne Tod, das Werk eines alten lothringischen Künstlers, streckte seine Sanduhr drohend nach ihr aus. Es lief ihr kalt über den Rücken und sie verließ die Kirche ganz erstarrt. In dem Augenblick, in dem sie um die Ecke des Gefängnisses bog, fand sie sich plötzlich Frank Finoël gegenüber. Der Bucklige hatte sie in die Kirche treten sehen und ihr Herauskommen abgepaßt. »Ich möchte nur zwei Worte mit Ihnen sprechen,« sagte er, noch ehe sie ihm hatte ausweichen können; »obgleich Sie mir die
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