Gérards Heirat
durch Dörfer mit verschlossenen Häusern und dunklen Fenstern, wo in Scheunen eingesperrte Hunde den vorüberfahrenden Wagen mit lautem Bellen begrüßten. Von neuem senkten sich die Lider; als sie sich wieder hoben, fuhr man über die wellenförmigen Ebenen der Champagne, wo Schafherden neben dem zweiräderigen Karren des Schäfers lagerten; in der Ferne ertönte das Pfeifen einer Lokomotive, Lichter blinkten herüber. Es war der Bahnhof von Blesmes.
Nun erwachte Helene vollends ganz, die Thränen auf den Wangen hatten noch nicht trocknen können und schonwaren sie am Ziel. Marius lud flink den Koffer ab und gab das Gepäck auf. Bald waren sie miteinander allein in dem von einer qualmenden Lampe schlecht erhellten Wartesaal. Jetzt erst sah der arme Bursche das verstörte Antlitz seiner Schwester und sein Herz zog sich schmerzlich zusammen. Helene betrachtete, die Stirne an die Fensterscheibe gepreßt, die schnaubende Lokomotive, die sie fortführen sollte von allem, was sie liebte. »Lebe wohl, lieber Marius,« sagte sie, »sei gut gegen den Vater! ...«
»Tausend-Element!« schrie der Dichter, »du weinst, Helene, und ohne meinen Leichtsinn wäre dies alles nicht geschehen! ... Wenn ich diese verwünschte Frau Grandfief einmal in meiner Gewalt hätte, sie sollte mir ihre Ränke teuer bezahlen!«
»Friede, Marius, sei vernünftig!« sagte Helene und drohte ihm mit dem Finger.
»Vernünftig sein, das ist gerade weniger mein Fall; aber bei den Erynnien, ich schwöre dir, dich zu rächen!«
»Einsteigen! Nach Paris einsteigen!« rief der Schaffner und öffnete die Thüre.
Bruder und Schwester umarmten sich noch ein letztes Mal, dann wurden die Thüren geschlossen; Helene warf durch das offene Fenster Marius noch einen Kuß zu, und der Zug fuhr hinaus.
Sechzehntes Kapitel.
»Wenn ich erst fort bin, wird alles vergessen werden,« hatte Helene oft zu sich selbst gesagt, um sich zur Abreise Mut zu machen; aber sie kannte die Provinz schlecht, oder war vielmehr zu sehr Pariserin, um sie verstehen zu können.
In Paris wird ein Ereignis, wenn es auch noch so viel Aufsehen erregt und noch so viel Staub in der Gesellschaft aufwirbelt, schnell erstickt durch das Gewoge der stets wechselnden Menge und durch die Entrüstung über noch größere neue Skandalgeschichten. Anders ist es in der Provinz, in der das Leben einem ruhigen, stillen See gleicht; der kleinste Kieselstein, der in diese schlummernden Wasser geworfen wird, erweckt ein tiefes, lang anhaltendes Echo und zieht leise Kreise an der Oberfläche, die sich mehr und mehr vergrößern. Der Bewohner einer kleinen Stadt, dessen einzige Zerstreuung darin besteht, daß er hinter bescheidentlich zugezogenen Gardinen das Thun und Lassen seiner Nachbarn belauscht, bewillkommnen einen Skandal wie ein seltenes Wildbret, wie ein Gericht mit Hautgout, das man mit Verstand genießen muß. Er würzt es mit den wunderbarsten Zuthaten, bereitet es bei gelindem Feuer mit seltener Kunst und zehrt dann monatelang davon.
Die rasche Abreise Helenens, weit entfernt, das Abenteuer im Höllengrund vergessen zu machen, hob dies nur um so mehr hervor und bot Veranlassung, es mit ebenso wohlwollenden als scharfsinnigen Ausschmückungen zu versehen. Die wahren Beweggründe zu dieser Flucht waren zu einfach und zu edel, als daß jemand hatte auf den Einfall kommen können, sie für wahrscheinlich zu halten; man suchte andere, und die Bewohner Juvignys ließen ihrer Einbildungskraft die Zügel schießen.
Die kleine Regina war eine der ersten, die den Kopf schüttelte und andeutete, daß die Ursache dieser überstürzten Abreise wahrscheinlich ernster sei, als man glaube. »Wenn man sich nichts vorzuwerfen hat,« sagte dieses gewissenhafte Wesen, »so flieht man nicht wie eine Verbrecherin, und wenn Fräulein Laheyrard die Stadt heimlich verlassen hat, so wird sie dies wohl gethan haben, um die sichtbaren Folgen ihrer Waldspaziergänge zu verbergen.«
Dabei zwinkerte die Nähterin mit den Augen undsummte wie als Schlußfolgerung einen bekannten zweideutigen Vers vor sich hin. In Bälde flüsterte man sich zu, daß Gérard von Seigneulles Helene ernstlich kompromittiert habe. Diese Verleumdung, die zuerst mit geheucheltem Unglauben aufgenommen wurde, verbreitete sich durch die ganze Stadt, und da das junge Mädchen durch ihr unabhängiges Wesen, ihre geistvollen Schelmenstreiche und ihre auffallende Schönheit mehr wie einmal Eifersucht und Mißgunst erregt hatte, so fand diese boshafte
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