Gérards Heirat
Voraussetzung fast überall Glauben.
Unter Helenens Anklägerinnen war Frau Grandfief die erbittertste und gefährlichste. Sie griff sie nicht offen an, aber sie hatte eine furchtbare Art, sie zu entschuldigen. »Ich für meine Person,« sagte sie, »habe nie an das Böse glauben können, und die christliche Liebe verbietet uns ein voreiliges Urteil; allein wenn ich an die trostlose Erziehung dieses unglücklichen Kindes denke, dann sehe ich mich genötigt, zuzugeben, daß alles möglich ist. Keine Grundsätze, kein Anstand und eine Mutter, die sie nie beaufsichtigt hat... Wie ist es anders möglich, als daß es mit einem so vernachlässigten Wesen ein schlechtes Ende nimmt? Darum werde ich nie müde, den Müttern, die Töchter haben, zu wiederholen: ›Meine Damen, wir müssen Grundsätze haben; ohne diese sind auch die besten Eigenschaften wertlos.‹ – Gott sei dank, Georgine ist anders erzogen worden. Ich habe sie nicht einmal dem Kloster anvertrauen mögen, meine Augen haben stets über ihr gewacht; sie hat kein Geheimnis vor ihrer Mutter, und ich lese in ihrem Herzen wie in einem Buch. Aber ich kann auch für sie einstehen wie für mich selbst.«
Was Fräulein Georgine anbelangt, so stimmten sie all diese Gerüchte, die über Helenen im Gange waren, tief nachdenklich. Obgleich sie in gewissen Dingen sehr unwissend war und auch keinen durchdringenden Verstand besaß, so erregten doch die versteckten Bemerkungen über die AbreiseFräulein Laheyrards und die im Flug aufgefaßten Anspielungen auf die Art und Weise, in der sie bloßgestellt worden war, die Einbildungskraft des unschuldigen, aber neugierigen Mädchens aufs äußerste. Sie fragte sich, nicht ohne eine gewisse Unruhe, wie es denn möglich sei, daß diese geheimnisvollen Spaziergänge im Höllengrund so schnell so mißliche Folgen nach sich ziehen konnten. – Dieses Muster eines nach Grundsätzen erzogenen Mädchens fühlte sich um so mehr beunruhigt, als ihr Gewissen sich in Beziehung auf Marius Laheyrard einige kleine Sünden vorzuwerfen hatte: ein unklugerweise auf dem Balle angenommenes Sonett, ein inniger Händedruck nach einem Tanz, ja sogar zwei oder drei sehr zärtliche, auf der Straße gewechselte Liebesblicke. In ihrer treuherzigen Unwissenheit fragte sich Georgine bedenklich, ob sie nicht selbst den gefährlichen Weg betreten habe, auf dem Helene einen so schrecklichen Fall gethan hatte, und doch konnte sie durch einen eigentümlichen Widerspruch es nicht unterlassen, zwischen ihre Gewissensbisse hinein mit Wohlgefallen an diesen großen, schönen Dichter zu denken, der so kühn, so lebhaft und so verführerisch war ...
Die Klatschereien waren im Gange und verbreiteten sich von Haus zu Haus. Nur an der Schwelle der Familie Laheyrard und an der Thüre des Herrn von Seigneulles gingen sie vorüber. Sogar in das Haus des letzteren kamen sie mit Marie, die sie von ihren Einkäufen mit nach Hause brachte; die alte Dienerin kannte aber ihren Herrn viel zu gut, als daß sie nicht reinen Mund gehalten hätte; der schweigsame Baptist sagte wie gewöhnlich kein Wort. Trotz dieser Zurückhaltung war Herr von Seigneulles unruhig; man hätte glauben können, er wittere, wie ein alter wachsames, sein Lager umkreisender Eber, etwas in der Luft. Als er den Tag vorher bei Frau von Travanette in das Zimmer getreten, war die begonnene Unterhaltung plötzlich verstummt; die täglichen Gäste hatten zurückhaltende und verlegene Gesichter gemacht; sogar die alte Dame selbst schienetwas befangen zu sein und hatte sich nicht nach Gérards Befinden erkundigt. Ein neu hinzugekommener Besucher begann plötzlich von der Flucht Fräulein Laheyrards zu sprechen; allgemeines Schweigen folgte auf diese unzeitgemäße Bemerkung, wahrend es schien, als ob gewisse schiefe, dem Sprechenden zugeworfene Blicke denselben auf die Anwesenheit des Chevaliers aufmerksam machen sollten. Herr von Seigneulles war sehr nachdenklich nach Hause zurückgekehrt und hatte die Lippen nur zum Essen und Trinken geöffnet; dann hatte er sich in sein Zimmer zurückgezogen und eine gewisse Melodie gepfiffen, die, nach Mariens Erfahrung, immer »Sturm« bedeutete.
Der nächste Tag war wieder Rasiertag; Herr von Seigneulles befand sich schon in seiner Küche, als Magdelinat mit noch unterwürfigerem Wesen und noch geschmeidigerem Rückgrat als gewöhnlich erschien. Dem Barbier waren natürlich alle diese Gerüchte bekannt, durch welche die Stadt in Aufregung versetzt worden war; allein er war
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