Geraubte Erinnerung
schaltete ab und dachte erneut über Fieldings persönliche Habe im Lagerraum nach. In ihr regte sich das unbestimmte Gefühl, dass sie irgendetwas übersehen hatte, und ihre Instinkte waren in der Regel todsicher. Doch sie wollte das Kontrollzentrum im Augenblick nicht verlassen. Nachdem Kurt auf der Bildfläche erschienen war, konnte alles ganz schnell gehen.
6
I ch zog Rachel ins Foyer des Fielding’schen Hauses. Lu Li schloss hastig die Tür hinter uns, und wir drehten uns zu der kaum einssechzig großen Asiatin um. Lu Li Fielding hatte den größten Teil ihres Lebens in der Volksrepublik China verbracht. Sie verstand einigermaßen Englisch, doch sie sprach es nicht besonders gut.
»Wer diese Frau?«, fragte sie und deutete auf Rachel. »Sie nicht verheiratet, Doktor David, ja?«
»Das ist Rachel Weiss, eine gute Freundin. Sie ist ebenfalls Ärztin.«
Misstrauen verschleierte Lu Lis Züge. »Sie arbeitet für Company?«
»Sie meinen Trinity?«
»Trinity«, echote sie, und das »r« klang fast wie ein »l«.
»Absolut nicht. Sie ist Professorin an der Duke University Medical School.«
Lu Li musterte Rachel prüfend. »Dann kommen bitte auch rein. Bitte, schnell.«
Lu Li verneigte sich und führte uns ins Wohnzimmer, das zur Küche hin offen war. Ich lächelte traurig. Als Fielding noch alleine in diesem Haus gewohnt hatte, hatte es stets ausgesehen, als wäre soeben ein Tornado hindurchgefegt. Überall hatten Zeitungen und Bücher verstreut gelegen, Dutzende von Kaffeebechern, Bierflaschen und überquellende Aschenbecher hatten jede freie Oberfläche übersät. Nach Lu Lis Ankunft war das Haus zu einem Zen-artigen Ort der Sauberkeit und Ordnung geworden.Heute roch es nach Wachs und Limonen statt nach kaltem Zigarettenrauch und abgestandenem Bier.
»Setzen, bitte«, sagte Lu Li.
Rachel und ich nahmen nebeneinander auf einem mit Kissen geschmückten Sofa Platz. Lu Li hockte sich auf die Kante eines alten Clubsessels uns gegenüber. Sie sah Rachel an, die eine Plakette an der Wand hinter Lu Lis Sessel anstarrte.
»Ist das der Nobelpreis?«, fragte Rachel leise.
Lu Li nickte nicht ohne Stolz. »Andy gewonnen Nobel in 1998. Ich in China damals und kannte seine Arbeit trotzdem. Alle Physiker voller Staunen.«
»Sie müssen sehr stolz auf ihn sein.« Rachel sprach mit einer Ruhe, die von ihren weiten Augen Lügen gestraft wurde. »Wie haben Sie sich kennen gelernt?«
Während Lu Li in gebrochenem Englisch antwortete, sinnierte ich über die Beziehung zwischen der kleinen Chinesin und meinem toten Freund. Fielding hatte Lu Li in China kennen gelernt, während er in Beijing als Mitglied eines chinesisch-britischen Austauschprogramms Vorträge gehalten hatte. Lu Li lehrte Physik an der Universität von Beijing, und sie hatte während jedem der neun Vorträge Fieldings in der ersten Reihe gesessen. Während Fieldings Aufenthalt hatten Parteibürokraten mehrere Empfänge gegeben – Lu Li war bei jedem dabei gewesen. Sie und Fielding waren rasch unzertrennlich geworden, und als der Tag gekommen war, an dem er China verlassen musste, hatte sich zwischen beiden eine tiefe Liebe entwickelt. Zweieinhalb Jahre folgten, in denen Fielding sich verzweifelt bemühte, ein Ausreisevisum für Lu Li zu beschaffen. Selbst die vorgebliche Hilfe der hohen Tiere von der NSA brachte keine Fortschritte. Schließlich hatte Fielding einen Punkt erreicht, an dem er überlegte, ob er illegale Schleuser bezahlen sollte, um Lu Li aus dem Land schmuggeln zu lassen, doch ich konnte ihn überzeugen, dass dies zu riskant war.
Alles änderte sich, als Fielding das Project Trinity wegen seiner Mutmaßungen über die Nebenwirkungen, unter denen wirausnahmslos litten, zu verzögern begann. Wie durch Zauberhand wurde das rote Band mit einem Mal zerschnitten, und Lu Li saß in einem Flugzeug mit Kurs auf Washington. Fielding wusste, dass seine Verlobte nur deswegen nach Amerika gebracht worden war, um ihn abzulenken, doch das war ihm egal. Ihre Ankunft verfehlte den gewünschten Zweck. Der Engländer setzte seine akribischen Untersuchungen jedes negativen Ereignisses im Trinity Lab unbeirrt fort, und in den anderen Wissenschaftlern wuchs Hass auf Fielding heran.
»Lu Li«, sagte ich in einer Pause, »ich möchte Ihnen mein tief empfundenes Beileid wegen Andrews Dahinscheiden ausdrücken.«
Die Physikerin schüttelte den Kopf. »Das nicht der Grund, warum ich Sie fragen, ob kommen. Ich möchte wissen von heute Morgen. Was wirklich meinem
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