Geraubte Erinnerung
mochte, sämtliche Mittel zu seiner Erreichung heiligte.
»Hatte Andy Unterlagen, die er mir zeigen wollte?«, fragte ich hoffnungsvoll.
»Ich glaube nicht. Jeden Abend er machen Notizen, aber jede Nacht vor dem Schlafengehen …« Sie deutete auf den Kamin. »Er sie immer alle verbrennen. Andy sehr geheim. Er immer versuchen, mich zu schützen. Immer mich schützen wollen.«
Genauso wie er versucht hat, mich zu schützen, dachte ich.Plötzlich fielen mir die Worte in Fieldings Brief ein. »Hat Andy seine Taschenuhr heute mit zur Arbeit genommen?«, fragte ich.
Lu Li zögerte nicht mit ihrer Antwort. »Er sie jeden Tag mitnehmen. Sie nicht gesehen heute?«
»Nein. Aber ich bin sicher, man wird Ihnen Andrews Uhr zusammen mit seinen anderen persönlichen Sachen zurückgeben.«
Ihre Lippen bebten, und ich spürte eine weitere bevorstehende Welle von Tränen, doch sie kamen nicht. Als ich Lu Lis Stoizismus sah, überkam mich tiefer Schmerz, der vertraut und doch auch irgendwie neu für mich war. Trauer war mir nicht fremd, beileibe nicht, doch was ich nun spürte, war anders als die Trauer, die mich nach dem Tod meiner Frau und meiner Tochter gepeinigt hatte. Andrew Fielding war einer der wenigen Männer dieses Jahrhunderts gewesen, die vielleicht einige der fundamentalsten Fragen menschlicher Existenz hätten beantworten können. Zu wissen, dass ein solcher Verstand für immer aus der Welt gegangen war, ließ ein Gefühl der Leere in meinem Innern entstehen, als wäre die menschliche Spezies auf eine profunde und unwiderrufliche Weise geschwächt worden.
»Was wird nun aus mir?«, fragte Lu Li leise. »Werde ich nach China zurückgeschickt?«
Nie im Leben, dachte ich. Ein Grund dafür, dass Project Trinity so geheim war, rührte aus dem Glauben mancher Politiker, dass andere Länder an einem ähnlichen Projekt forschten. Mit seiner Geschichte aggressiven Technologiediebstahls stand China hoch oben auf der Liste dieser Länder. Die NSA würde eine in China geborene Physikerin, die so nah bei diesem Projekt gewesen war, niemals in ihre Heimat zurückkehren lassen. Tatsächlich machte ich mir Sorgen wegen Lu Lis Überleben. Doch ich konnte wenig zu ihrem Schutz tun, bevor ich nicht mit dem Präsidenten gesprochen hatte.
»Man wird Sie ganz bestimmt nicht zurückschicken, Lu Li«, versicherte ich ihr. »Machen Sie sich deswegen keine Gedanken.«
»Andy hat gesagt, die Regierung macht alles, was sie will.«
Ich wollte ihr soeben antworten, als die Lichtkegel von Autoscheinwerfern durchs Foyer huschten. Ein Wagen fuhr langsam am Haus vorbei. Zu langsam?
»Das ist nicht wahr«, sagte ich. »Lu Li, ich sage es nicht gern, aber das Beste ist wahrscheinlich, wenn Sie für den Augenblick mit der NSA kooperieren. Je weniger Probleme Sie der NSA machen, desto weniger wird man Sie als Bedrohung einstufen. Verstehen Sie?«
Ihr Gesicht wurde ausdruckslos. »Soll das heißen, ich soll zusehen, wie NSA meinen Andy töten, und nichts machen? Nichts? «
»Wir wissen nicht, ob Andy getötet wurde. Und es gibt wenig, das Sie persönlich tun könnten, jedenfalls im Moment. Ich möchte, dass Sie alles mir überlassen. Ich habe den Präsidenten angerufen, und er könnte jeden Augenblick zurückrufen. Er ist zurzeit in China. In Beijing, ausgerechnet.«
»Ich im Fernsehen gesehen. Andy mir erzählen, Sie kennen Präsident.«
»Ich habe ihn kennen gelernt, ja. Er war ein Freund meines Bruders, und er hat mich zu Trinity gebracht. Ich verspreche Ihnen, Lu Li, dass ich auf die eine oder andere Weise die Wahrheit über den Tod von Andrew herausfinden werde. So viel bin ich ihm schuldig. Und noch viel mehr.«
Lu Li lächelte plötzlich, trotz ihrer Trauer. »Andy war ein guter Mann. Ein freundlicher Mann. Lustig. Und smart.«
»Sehr smart«, stimmte ich ihr zu, obwohl Worte wie »smart« wenig besagten, wenn man damit Männer wie Andrew Fielding bezeichnete. Fielding hatte zu einer der kleinsten und exklusivsten Bruderschaften auf diesem Planeten gehört, zu denjenigen, die die Geheimnisse der Quantenphysik tatsächlich verstanden hatten, einem Gebiet, das denjenigen vorbehalten war, die »zu smart waren, um Doktoren zu sein«, wie Fieldings Studenten auf dem Campus häufig witzelten.
Rachel schrie überrascht auf, als ein weißer Fellball ins Zimmer flitzte und in Lu Lis Schoß landete. Der Fellball war einkleiner Hund, ein Bichon Frisé. Lu Li lächelte und streichelte das Tier.
»Maya, Maya!«, sagte sie; dann murmelte sie
Weitere Kostenlose Bücher