Gerechte Engel
»Schweigen Sie lieber. Ich weiß, was Sie sagen wollen, Goldstein, aber ich will es gar nicht hören.«
Goldstein sagte es trotzdem. »Was ist denn die Zeit für einen Engel? Im Limbus ist es gar nicht so schlecht«, fügte er hinzu. »Jedenfalls gibt es eine ganze Menge schlimmere Orte, um Däumchen zu drehen. Die Strafe tritt man erst an, wenn das Urteil ergangen ist.«
Voll böser Ahnungen beäugte Bree Haydees Akte. Nachdem sie sie entrollt hatte, entfuhr ihr ein »Teufel noch mal!«, was dazu führte, dass ein missbilligendes Raunen durch den Saal ging. Sie hielt Ron das Pergament hin.
»Schwebendes Verfahren«, las Ron vor.
»1952 wurde die arme Frau erstochen, und über ihre Seele ist immer noch nicht entschieden worden!« Bree rollte das Pergament zusammen und schlug Goldstein damit auf den Kopf. »Ich werde eine Beschwerde einreichen.«
Goldstein wich einige Schritte zurück, um außer Brees Reichweite zu kommen. »Was denn für eine Beschwerde?«
»Keine Beschwerde«, verbesserte sich Bree. »Ein Hinweis auf den Zeitraum würde nichts nützen, das ist mir gerade klar geworden. Ich werde also ein Gesuch einreichen.«
Goldstein wich noch weiter zurück. »So eins wie das, das Sie schon eingereicht haben? In dem Sie das Recht auf direkte und klare Kommunikation zwischen Rechtsvertreter und Klient geltend machen? Da wünsche ich Ihnen viel Glück!«
»Höre ich da einen ironischen Unterton?«, fragte Bree drohend.
»Nein, nein, nein«, beeilte er sich zu versichern. »Nicht im Geringsten, Bree. Ich bewundere Ihren revolutionären Geist sogar.«
»Ach ja?«
»Aber man darf es auch nicht auf die Spitze treiben. Schließlich …«
Natürlich war da ein ironischer Unterton, dachte Bree wütend.
»… weiß man, dass manche Revolutionen zu weit gegangen sind. Ich erinnere Sie nur an Fall 1.1 im Corpus Juris Ultimum .«
»Fall 1.1«, wiederholte Bree. Berühmte irdische Präzedenzfälle hatte sie wesentlich besser im Kopf als himmlische. »Oh«, sagte sie mit tonloser Stimme. »Klar.«
Luzifer vs. Himmlischen Gerichtshof.
Sie schnappte sich die einzige Bulloch-Akte, die ihr etwas nützen würde. »Bis zum nächsten Mal, Goldstein.«
Er hob die Hand und wackelte mit den Fingern. »Wiedersehn.«
»In gewisser Weise können wir ganz zufrieden sein«, sagte Ron, als sie mit dem Fahrstuhl nach unten fuhren. »Wenn wir unseren Fall erfolgreich zu Ende bringen, dürfte das eine Auswirkung auf das Schicksal von mindestens drei Seelen haben. Vielleicht sogar von noch mehr.«
Bree stampfte mit dem Fuß auf. »Verdammt noch mal! Ich hätte mir auch die Akte von Bagger Bill Norris geben lassen sollen. Wenn er zum Beispiel im achten Kreis ist, hieße das doch, dass er irgendwie involviert war. Es würde die irdischen Ermittlungen sehr erleichtern, wenn man wüsste, wer den Mord tatsächlich begangen hat.«
»Soll ich noch mal hochgehen und die Akte holen?«
»Ja. Aber sehen Sie sich das Ganze vorher an. Wenn da nämlich auch schwebendes Verfahren steht, können Sie Goldstein die Akte gleich zurückgeben und sagen, er kann sie sich …« Sie stampfte erneut mit dem Fuß auf. »Oh, sagen Sie, es täte mir leid, dass ich die Beherrschung verloren habe. Vermutlich wäre es ganz hilfreich zu wissen, ob sich Norris ebenso wie alle anderen im Limbus befindet. Trotzdem werde ich ein Gesuch einreichen und dafür sorgen, dass einige Reformen durchgeführt werden. Meine Güte«, fügte sie murmelnd hinzu. »Limbus.«
Ron fasste Bree nur selten an, doch jetzt legte er ihr lächelnd die Hand auf die Wange. »Der Spruch Was ist Zeit für einen Engel ist nicht nur so dahergesagt, sondern tatsächlich von profunder Wahrheit. Zeit hat keinerlei Bedeutung. Es gibt keine Vergangenheit, keine Zukunft, nur das Jetzt. Wenn Sie sich also vorstellen, Haydee sitze im Limbus und schreie verzweifelt nach Gerechtigkeit, die man ihr verweigert hat, dann irren Sie sich.«
»Den metaphysischen Teil hab ich schon verstanden«, erwiderte Bree. Rons Lächeln hatte etwas, das besser wirkte als jedes Antidepressivum, sogar noch besser als ein schöner Gin Tonic, fand Bree. Sie erwiderte sein Lächeln. »Es sind die Leute hier auf Erden, die zu lange warten müssen, das ist unfair.«
»Zum Beispiel wer?«
»Zum Beispiel Dent.«
»Die Lösung seiner Probleme liegt aber doch ganz bei Dent selbst.«
Als sie das Erdgeschoss erreicht hatten und sich die Fahrstuhltür öffnete, war Bree so in ihr Gespräch mit Ron vertieft, dass sie
Weitere Kostenlose Bücher