Gerechtigkeit fuer Igel
sollten – als primitiv verstehen, also als Begriffe, die nicht mit Bezug auf etwas anderes definiert werden können. Wir wissen alle genau, was mit der Aussage, daß etwas gut oder richtig ist oder daß jemand etwas tun sollte, gemeint ist, auch wenn wir dies nicht definieren können, indem wir auf einen allgemein akzeptierten Test verweisen. Ebenso wie alle wissen, was mit ›gelb‹ gemeint ist, und darum Meinungsverschiedenheiten hinsichtlich der Frage, welche Früchte gelb sind, echt sein können, wissen wir alle, was mit ›gut‹ gemeint ist, und können daher unterschiedlicher Meinung darüber sein, ob der Siegeszug des Kapitalismus gut ist.« Aber auch dieser letzte Versuch scheitert. Natürlich wissen wir alle, was gemeint ist, wenn wir sagen, daß etwas gut ist oder getan werden sollte. Es geht aber um die Frage, warum es wahr ist, daß wir alle dasselbe meinen. Einfach zu sagen, daß wir nun
290 einmal der Meinung sind, daß dem so ist, reicht nicht aus. Wir müssen zudem erklären, wie es sein kann, daß wir damit recht haben. Wir gehen davon aus, daß wir mit »gelb« dasselbe meinen, weil wir mit diesem Wort dieselben Gegenstände bezeichnen und im Fall einer Meinungsverschiedenheit glauben, diese erklären zu können, indem wir etwa auf die Lichtverhältnisse oder auf Fehler in unserem Wahrnehmungsapparat verweisen. Bei moralischen Begriffen ist das nicht der Fall. Außerdem sollte ich hier hinzufügen, daß es ein Fehler wäre, davon auszugehen, daß man moralische Begriffe nicht definieren kann, weil sie interpretativ sind. Es ist nur einfach so, daß jede brauchbare Definition eines moralischen Begriffs unvermeidlich umstritten sein wird, weil sie selbst ein moralisches Urteil ist.
Relativismus?
Droht uns nun aber ein neuer Relativismus? Gerechtigkeit, Ehrlichkeit und die anderen hier von mir als interpretativ bezeichneten Begriffe sind in Praktiken eingebunden, die sich von Ort zu Ort unterscheiden. Während wir ethnische oder sexuelle Diskriminierung für paradigmatische Beispiele von Ungerechtigkeit halten, herrscht in manchen anderen Kulturen die Meinung vor, daß sie keineswegs im Widerspruch zur Gerechtigkeit stehen oder sogar von ihr gefordert werden. Folgt daraus nicht, daß man auf die Frage, wie jene unterschiedlichen Praktiken am besten zu interpretieren sind, ebenso unterschiedliche Antworten geben muß, so daß in Toledo vielleicht eine andere Auffassung von Gerechtigkeit überzeugt als in Teheran? Steht, wenn wir Gerechtigkeit als interpretativ verstehen, nicht zu befürchten, daß wir jemandem, zu dessen kulturellem Hintergrund die systematische Diskriminierung von Frauen gehört, nicht widersprechen können, wenn er behauptet, diese sei nicht ungerecht? Vielleicht müssen wir zugestehen, daß seine Interpretation die Praktiken seiner Gemeinschaft am besten erklärt.
291 Besonders überzeugend scheint dieser Gedanke, wenn wir eine Parallele zur Rechtspraxis ziehen. Recht wird in verschiedenen politischen Gemeinschaften auf sehr unterschiedliche Weise praktiziert, und ebenso unterschiedlich sind auch die im Gesetz verankerten Rechte und Pflichten. Warum sollte das nicht auch im Fall der Gerechtigkeit so sein, wenn sie ein interpretativer Begriff ist?
Um die damit angesprochene Frage überhaupt angehen zu können, müssen wir zunächst ein Problem aus dem Weg schaffen. Was berechtigt uns zu der Annahme, daß jene weltweit so unterschiedlichen Praktiken alle auf demselben Begriff beruhen, nämlich dem der Gerechtigkeit? In vielen der in Frage stehenden Gesellschaften wird das Wort »Gerechtigkeit« überhaupt nicht verwendet, und wir gehen nur deshalb davon aus, daß es sich hier um Gerechtigkeitspraktiken handelt, weil wir glauben, daß ein bestimmtes von der einheimischen Bevölkerung verwendetes Wort denselben Wert bezeichnet, den wir mit dem Wort »Gerechtigkeit« meinen. (Selbst wenn sie ein Wort verwenden, das wie »Gerechtigkeit« klingt, müssen wir eine solche Annahme voraussetzen.) Wenn die Praktiken aber wirklich so unterschiedlich sind, was rechtfertigt dann diese Übersetzung? Warum sollten wir nicht statt dessen einfach sagen, daß sie nicht über diesen Begriff verfügen?
Damit der Relativismus also überhaupt als Bedrohung erscheinen kann, muß unser Begriff ausreichend strukturelle Gemeinsamkeiten mit dem ihren haben, so daß es gerechtfertigt ist, beide für denselben zu halten. Auch die anderen müssen also viele Handlungen, die wir für ungerecht halten, mit
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