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Gerechtigkeit fuer Igel

Gerechtigkeit fuer Igel

Titel: Gerechtigkeit fuer Igel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ronald Dworkin
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miteinander teilen. Ist das der Fall und, wenn ja, wie kann man das erklären?
    Es ist höchste Zeit, daß ich auf diese Fragen zu sprechen komme. Im ersten Teil habe ich die Meinung vertreten, daß moralische Urteile objektiv wahr sein können, und in diesem zweiten Teil die allgemeinere Auffassung verteidigt, daß dasselbe für alle interpretativen Aussagen gilt. Außerdem habe ich erklärt, welche Wahrheitsbedingungen solche Urteile haben und inwiefern diese von den Wahrheitsbedingungen wissenschaftlicher Aussagen unterschieden sind. Es ging also schon die ganze Zeit um Wahrheit. Wenn ich mit den Vertretern des externen Skeptizismus aber keinen Wahrheitsbegriff teile, dann stellen sich all meine langen Ausführungen als ziemlich albern heraus und unsere Uneinigkeit als ebenso trügerisch wie im Fall der Verabredung an der Bank. Im siebten Kapitel habe ich erklärt, daß Menschen, die einfach nicht bereit sind, interpretative Urteile »wahr« zu nennen, ebensogut ein anderes Wort verwenden können – zum Beispiel »am vernünftigsten« oder »am ehesten zu akzeptieren«. Habe ich aber das Recht zu sagen, daß sie trotzdem denselben Begriff verwenden würden?
    Der Gedanke, daß Wahrheit eine primitive Idee ist, die nicht definiert werden kann, ist heute weit verbreitet.
13 Leider trägt das aber (wie wir schon im Zusammenhang mit »Gutsein« gesehen haben) nicht besonders viel zur Beantwortung dieser Fragen bei. Wir müssen vielmehr herausfinden, ob Philosophen und andere Menschen einen bestimmten primitiven Begriff (im Sinne eines Grundbegriffs) teilen. Anwendungskriterien, anhand deren man entscheiden kann, ob eine Aussage in einem bestimmten Bereich wie etwa der Moral oder der Mathematik »wahr« genannt werden sollte, teilen wir jedenfalls nicht. Vielleicht können wir uns auf das einigen, was Crispin Wright als »Platitüden« über Wahrheit bezeichnet hat, also etwa darauf, daß die Aussage »Schnee ist weiß« nur dann wahr
295 ist, wenn Schnee weiß ist, oder daß eine Aussage wahr ist, wenn sie den Sachverhalt zutreffend wiedergibt.
14 Aus solchen Platitüden können wir jedoch kein Verfahren ableiten, das dazu verwendet werden könnte, jene Fragen zu beantworten. In der Philosophie ist man sich nicht einmal darüber einig, was ein Sachverhalt ist.
    Gerade habe ich philosophische von alltäglichen Verwendungen des Wahrheitsbegriffs unterschieden. Wenn wir uns nur mit ersteren beschäftigen, erscheint eine manchmal »deflationär« genannte Theorie der Wahrheit als attraktiv.
15 Ihr zufolge bedeutet eine Aussage wahr zu nennen einfach, sie zu wiederholen. Wenn wir sagen, es sei wahr, daß Sam eine Glatze hat, daß Wasser bergab fließt oder daß unnötige Folter verwerflich ist, dann sagen wir damit nichts anderes, als daß Sam eine Glatze hat, daß Wasser bergab fließt und daß unnötige Folter verwerflich ist. So gesehen könnte man Wahrheit als kriteriumsabhängigen Begriff verstehen, weil wir uns alle einig sind, mit Hilfe welchen Verfahrens wir uns entscheiden, ihn anzuwenden: Wenn das, was wir behaupten, wirklich der Fall ist, ist es richtig, diese Behauptung wahr zu nennen. Um zu sagen, wie sich die Dinge verhalten, können wir kriteriumsabhängige, interpretative oder sich auf natürliche Arten beziehende Begriffe verwenden, und in meinen Beispielsätzen kamen alle drei vor. Das ändert diesem Ansatz zufolge aber nichts daran, daß der Wahrheitsbegriff selbst kriteriumsabhängig ist.
    Wir können den Wahrheitsbegriff, wie er in den philosophischen Debatten etwa über die Wahrheitsfähigkeit moralischer Urteile oder die Plausibilität der deflationistischen Wahrheitstheorie auftaucht, jedoch schlicht nicht auf diese Weise verstehen. Im alltäglichen Gebrauch löst sich jede Beunruhigung über den Begriff der Wahrheit auf, sobald wir dessen Redundanz verstehen. Wir müssen uns nicht mit der Frage abgeben, was Wahrheit ist, wenn uns eigentlich nur Sams fehlendes Kopfhaar, das Verhalten von Wasser und die Frage, ob unnötige Folter falsch ist, interessiert. Aber in der Philosophie geht es tatsäch
296 lich um Wahrheit, und darum können wir uns nicht einfach mit etwas anderem beschäftigen, statt zu fragen, was es damit wirklich auf sich hat. Es hilft uns nicht weiter zu sagen, daß der Satz »Moralische Urteile sind wahrheitsfähig« genau dann wahr ist, wenn moralische Urteile wahrheitsfähig sind, auch wenn das sicher richtig ist. Es ändert überhaupt nichts daran, daß Philosophen sich nicht

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