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Gerechtigkeit fuer Igel

Gerechtigkeit fuer Igel

Titel: Gerechtigkeit fuer Igel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ronald Dworkin
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jenem Wort beschreiben, das wir als »ungerecht« übersetzen würden, und mit dieser Zuschreibung Konsequenzen verbinden, die jenen, die wir erwarten, wenn wir etwas ungerecht nennen, in erheblichem Maße ähneln, weil ansonsten unsere Übersetzung falsch wäre. (Vergleichen Sie dies mit den Überlegungen zur radikalen Übersetzung im siebten Kapitel.) Diese strukturellen Gemeinsamkeiten, die vorhanden sein müssen, damit der Rela
292 tivismus überhaupt zum Problem werden kann, lösen die Bedrohung durch ihn zugleich auf. Wir können viele der substantiellen Aussagen, die andere Kulturen über Gerechtigkeit machen, einfach für falsch erklären, indem wir davon ausgehen, daß jene von uns geteilten paradigmatischen Fälle der Zuschreibung und Reaktionsweisen am besten mit einer Interpretation zu erklären sind, die eine Ablehnung jener Aussagen rechtfertigt. Es ist stets an uns selbst, ein Urteil darüber zu fällen, welche Rechtfertigung jenen Paradigmen angemessen ist, und das wäre in keiner Interpretation, der zufolge geschlechterbasierte Diskriminierung gerecht ist, der Fall. Wir behaupten also, daß jene Mitglieder anderer Kulturen zwar einen Gerechtigkeitsbegriff mit uns teilen, daß es aber durchaus plausibel ist zu denken, daß sie denselben gründlich mißverstehen. Aus diesem Grund müssen wir keine relativistische Sichtweise vertreten – es genügt vollkommen anzunehmen, daß die anderen im Unrecht sind.
    Was aber, wenn uns die Übersetzung nicht gelingt? Vielleicht können wir in einer bestimmten Sprachgemeinschaft kein Wort finden, das plausibel mit »Gerechtigkeit« übersetzt werden kann. Dann müssen wir zu dem Ergebnis kommen, daß jener Gemeinschaft der Begriff der Gerechtigkeit fehlt. Das Verhalten ihrer Mitglieder könnte aber nichtsdestotrotz gegebenenfalls zutiefst ungerecht genannt werden, weil man durchaus ungerecht sein kann, ohne über den entsprechenden Begriff zu verfügen. Auch hier können wir den Relativismus vermeiden.
    Warum verhält es sich im Fall des Rechts anders? Warum sagen wir nicht, daß Staaten, deren Bebauungsvorschriften sich von den unsrigen unterscheiden, den Begriff des Rechts falsch verstanden haben und es daher unabhängig davon, was ihre Bewohner denken, in Wirklichkeit dort ebenso illegal ist, georgianische Gebäude einzureißen wie bei uns? Das liegt daran, daß es zu jedem einigermaßen plausiblen Verständnis von Recht und Gerechtigkeit gehört, daß das, was gesetzlich vorgeschrie
293 ben ist, von lokal getroffenen Entscheidungen abhängt, nicht aber das, was gerecht oder ungerecht ist. Was es mit dieser Autorität lokaler Festlegungen auf sich hat, wird von unterschiedlichen Rechtstheorien unterschiedlich erklärt, aber jeder einigermaßen brauchbare Ansatz schreibt solchen Entscheidungen im Bereich des Rechts viel mehr Autorität zu als im Bereich der Moral. Selbst wenn wir das Recht als Teil der Moral verstehen – und im 19. Kapitel werde ich versuchen, diese Auffassung zu verteidigen –, müssen wir akzeptieren, daß jener Unterbereich auf ebendiese Weise vom Rest der Moral unterschieden ist.
    Wahrheit
    Uneinigkeit über die Wahrheit
    Ich habe vorgeschlagen, daß viele der Begriffe, mit denen sich Philosophen beschäftigen – nicht nur moralische und politische Begriffe, sondern auch solche, die auf andere Weise philosophisch interessant sein können –, am besten als interpretative Begriffe verstanden werden sollten. Debatten über den Begriff der Wahrheit scheinen in der Philosophie nie ans Ende zu kommen. Ist der Begriff, der in all jenen Theorien und Kontroversen auftaucht, interpretativ? Wir sind uns offensichtlich darüber zutiefst uneinig, was Wahrheit ist und was wahr ist. Zum einen gibt es in diesem Zusammenhang philosophische Kontroversen: So bin ich in der Frage, ob moralische Urteile wahrheitsfähig sind, anderer Meinung als externe Skeptiker. Aber auch im tagtäglichen Miteinander sind viele Menschen immer wieder unterschiedlicher Meinung in Fragen der Wahrheit, zum Beispiel darüber, ob es wahr ist, daß Kleopatra mit Julius Caesar geschlafen hat, ob unser Universum mit dem Urknall begann, ob Owen Glendower ein Narr war oder ob es wahr ist, daß der letzte Irakkrieg der Vereinigten Staaten unmoralisch gewesen ist. Wenn es sich dabei um echte philoso
294 phische und alltägliche Uneinigkeiten handelt – und so kommt es zumindest den Menschen vor, die in sie verstrickt sind –, dann müssen wir alle einen Wahrheitsbegriff

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