Gerechtigkeit fuer Igel
entscheiden können, was gerecht ist und was nicht. Im Gegenteil würden einfach weitere scheinbare Meinungsverschiedenheiten hervortreten, und wir müßten erklären, warum es sich bei diesen um echte Uneinigkeiten handelt. Wenn wir etwa Rawls' Formulierung übernehmen würden, müßten wir Kriterien dafür festlegen, welche Unterscheidungen »willkürlich« sind und was einen »sinnvollen« Ausgleich von Vorteilen ausmacht, die von allen Menschen, die sich in Gerechtigkeitsfragen uneins sind, akzeptiert werden, und das ist unmöglich.
Wir könnten aber auch anders ansetzen und zum Beispiel behaupten, daß Menschen mit unterschiedlichen Meinungen in Gerechtigkeitsfragen trotzdem im Grunde über gemeinsame Anwendungskriterien verfügen, weil sie sich alle darüber einig sind, in welchem Verhältnis die Gerechtigkeit zu anderen grundlegenderen moralischen Urteilen steht. So könnten wir alle Uneinigkeiten in Fragen der Gerechtigkeit auf unterschiedliche Antworten auf die Frage zurückführen, welche Art politischer Institutionen gut oder schlecht sind oder wie sich Regierungsvertreter und Menschen im allgemeinen verhalten sollten. Wir könnten dieser Sichtweise zufolge also im Grunde auf den Begriff der Gerechtigkeit verzichten und statt dessen einfach fragen, welche Institutionen etabliert werden sollten und ob die
286 bereits existierenden Institutionen abgeschafft werden müssen. Ein Problem dieser Lösung ist offensichtlich: Manche der Gründe, die unseres Erachtens für oder gegen eine bestimmte Institution sprechen, hängen nicht mit der Gerechtigkeit zusammen, und darum ist es nicht möglich, alle Diskussionen darüber, ob man zum Beispiel die progressive Besteuerung abschaffen sollte, als Diskussionen über die Gerechtigkeit dieser Maßnahme zu betrachten. Es ist keineswegs klar, wie man die Unterscheidung zwischen diesen unterschiedlichen Debatten erklären soll, ohne den Begriff der Gerechtigkeit einzuführen. Ich würde sogar sagen, daß dies tatsächlich unmöglich ist. Aber es gibt noch eine weitere, noch grundsätzlichere Schwierigkeit, die direkt mit unserem Thema zu tun hat: Ein solches Vorgehen würde die Antwort auf die entscheidende Frage bereits voraussetzen, weil wir davon ausgehen müßten, daß all jene sehr abstrakten Begriffe des Guten, des Schlechten, der Pflicht und dessen, was wir tun oder unterlassen sollten, kriteriumsabhängig sind.
Lassen wir also eher komplexe moralische Begriffe wie den der Gerechtigkeit vorerst beiseite und fragen statt dessen, ob überhaupt irgendeiner unserer moralischen Begriffe als kriteriumsabhängig verstanden werden kann – die abstraktesten und allgemeinsten unter ihnen eingeschlossen. Auf den ersten Blick scheint das nicht der Fall zu sein. Menschen, die sich uneins darüber sind, was gut ist oder was man tun sollte, haben keine gemeinsamen Kriterien, anhand deren sie ihre Meinungsverschiedenheiten eindeutig entscheiden könnten.
11 Könnte man argumentieren, daß die entsprechenden Begriffe nichtsdestotrotz kriteriumsabhängig sind, weil Menschen sich einig sind, daß etwas, für das es einen entscheidenden oder kategorischen Grund gibt, getan werden muß? Nein, denn damit haben wir das Problem nur aufgeschoben, und das nicht einmal besonders effektiv, da sie sich nicht darüber einig sind, anhand welcher Kriterien entschieden werden sollte, ob ein solcher Grund vorliegt. Es bringt uns auch nicht weiter, gemeinsame Kriterien
287 über Konsequenzen festlegen zu wollen, indem wir zum Beispiel behaupten, daß Menschen einen Begriff des Guten teilen, weil sie sich einig sind, daß wir etwas, wenn es gut ist, anstreben oder schützen sollten, und daß ein Mensch für eine Handlung, die falsch ist, kritisiert oder bestraft werden muß. Nicht einmal darauf können sich alle einigen, und selbst der vage Anschein eines breiten Konsenses löst sich auf, sobald wir fragen, worin dieses Streben, Schützen, Kritisieren und Bestrafen genau bestehen sollte – ganz zu schweigen davon, daß natürlich keinerlei Einigkeit darüber besteht, was genau angestrebt, geschützt, kritisiert oder bestraft werden soll. Außerdem gibt es neben der Frage, ob etwas gut ist, viele andere Gründe, etwas zu bewahren oder zu kritisieren, und wie im Fall der Gerechtigkeit können wir auch hier nicht angeben, was moralische Gründe auszeichnet, ohne auf moralische Begriffe zurückzugreifen.
Angesichts dessen scheint jeder Versuch zu erklären, inwiefern wir unterschiedlicher oder
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