Gerechtigkeit fuer Igel
darüber einig sind, ob moralische Urteile wahrheitsfähig sind, weil sie unterschiedlicher Meinung darüber sind, was Wahrheit eigentlich ist.
Wenn wir »Wahrheit« als interpretativen Begriff verstehen, können wir philosophische Debatten über das Wesen der Wahrheit auch weiterhin führen. Darum sollten wir die verschiedenen im Raum stehenden Wahrheitstheorien umdeuten, indem wir sie, wenn möglich, als interpretative Behauptungen verstehen. Wir können zahlreiche, ganz unterschiedliche Praktiken nennen, in deren Rahmen wir das Streben nach und das Erkennen der Wahrheit als Wert behandeln. Obwohl wir es nicht unter allen Umständen für gut halten, die Wahrheit auszusprechen oder auch nur zu kennen, gehen wir davon aus, daß beides generell etwas Gutes ist. Die Wahrheit ist in diesen Praktiken eng mit einer ganzen Reihe anderer Werte verbunden, die Bernard Williams unter dem Begriff der Wahrhaftigkeit zusammenfaßt,
16 unter anderem mit Genauigkeit, Verantwortungsbewußtsein, Ehrlichkeit und Authentizität. Außerdem ist eine Vielzahl von Begriffen anderer Art mit dem der Wahrheit verbunden: Hier fällt einem natürlich sofort der Begriff der Wirklichkeit ein, aber auch Meinung, Untersuchung, Behauptung, Argument, Nachdenken, Aussage und Satz sind naheliegend. Wir müssen all diese Begriffe – also die ganze Familie der Wahrheitsbegriffe – zusammen interpretieren und versuchen, jeweils eine Deutung zu finden, die berücksichtigt, in welchem Verhältnis sie alle zueinander stehen und wie Wahrheit und Wahrhaftigkeit üblicherweise verstanden werden.
Die existierenden philosophischen Wahrheitstheorien sollten wir also dahingehend bewerten, wie gut sie jenem großen
297 Netzwerk von Begriffen und Praktiken gerecht werden. Die einstmals so beliebte Korrespondenztheorie sollte zum Beispiel als Versuch verstanden werden, aufeinander bezogene Auffassungen von Korrespondenz und Wirklichkeit zu entwickeln, auf deren Grundlage die substantielle interpretative Aussage, daß Wahrheit als Korrespondenz mit der Wirklichkeit zu betrachten sei, als mehr als nur eine Platitüde erachtet werden kann. Wenn das gelingt, würde diese Auffassung der genannten Begriffe es uns ermöglichen, auch die anderen Begriffe der Wahrhaftigkeit erfolgreich zu deuten – also zum Beispiel Williams' Interpretation der Ehrlichkeit besser zu verteidigen. Es wäre auch denkbar, daß eine plausible Erweiterung dieses Ansatzes überzeugend erklären könnte, warum wir Wahrheit und Verursachung in bestimmten Bereichen intuitiv miteinander verknüpfen, indem wir zum Beispiel sagen, daß die Aussage, Jupiter sei der größte Planet, nicht nur wahr ist, wenn Jupiter der größte Planet ist, sondern auch, weil das der Fall ist.
Wahrheit mit Korrespondenz zu verknüpfen hat sich aber als schweres Unterfangen herausgestellt. Daß es in der realen Welt eine Entsprechung für negative Aussagen – etwa die, daß Caesar am Abend vor seinem Tod nicht mit Publius Servilius Casca zu Abend gegessen hat – oder für komplexe Behauptungen gibt – etwa die, daß Caesar, wenn er den Abend mit Casca verbracht hätte, die Verschwörung bemerkt hätte –, erfordert eine Menge Einfallsreichtum. Außerdem hat sich die Ausarbeitung einer substantiellen und geeigneten Auffassung von Korrespondenz als sehr schwierig erwiesen. Inwiefern macht es Sinn zu sagen, daß eine Aussage mit etwas korrespondiert ?
Lassen Sie uns aber nun davon ausgehen, daß diese Probleme gelöst wurden oder zumindest gelöst werden können – nicht weil wir das wirklich denken, sondern nur um einen bestimmten Punkt zu verdeutlichen.
17 Wir nehmen also an, daß in der Philosophie bestimmte Auffassungen der Korrespondenz und der Wirklichkeit ausgearbeitet wurden, auf deren Basis sich sagen läßt, es gebe etwas in der Wirklichkeit, zu dem selbst ne
298 gative und komplexe Aussagen in einer Korrespondenzbeziehung stehen können. Das würde uns mit der folgenden wichtigen interpretativen Frage konfrontieren: Denken wir, daß die beste Korrespondenztheorie (wie immer diese letztendlich aussieht) den Begriff der Wahrheit vollständig einfängt? Oder sollten wir sie als Ergebnis der Anwendung einer noch abstrakteren Deutung der Wahrheitsbegriffe und Wahrheitspraktiken auf die Wissenschaft (oder irgendein anderes Untersuchungsfeld) begreifen? Könnte es sein, daß jene noch abstraktere Interpretation, angewendet auf andere Bereiche, wie etwa die Mathematik oder die Moral, keine
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