Gerechtigkeit fuer Igel
zeigen, daß seine Auffassung von Gerechtigkeit nicht allzu kontraintuitiv ist, um von anderen als eine Möglichkeit, jene Tugend zu verstehen, akzeptiert zu werden. Er versucht also zu zeigen, daß aus der reflektierten Verfolgung eigener Interessen die Berücksichtigung des Wohlergehens anderer folgt – eine Strategie, die auch von Kant und vielen anderen Philosophen übernommen wurde. Auch wenn uns Platons Argumentation letztendlich nicht überzeugt – Irwin nennt einige sehr triftige Einwän
316 de –, ist es doch offensichtlich, daß sie von einer interpretativen Strategie angeleitet wird.
Es handelt sich dabei um eine mehrdimensionale Argumentation, zu der eine bestimmte Auffassung der Tapferkeit, der Mäßigung, der Gerechtigkeit und des Glücks gehört. Es geht darum, sich wechselseitig bestätigende Auffassungen jener Tugenden zu finden, statt ein hierarchisches System. Platon beginnt nicht mit einer bestimmten Auffassung des Glücks, an die er dann seine Diskussion der übrigen Tugenden anpaßt, sondern er schlägt im Gegenteil eine Auffassung des Glücks vor, die zunächst kontraintuitiv ist und letztendlich nur über die Weise, wie sie jenen anderen Tugenden interpretativ Raum läßt, gerechtfertigt wird. Es leuchtet nicht wirklich ohne weiteres ein, warum Glück eine Ordnung der Seele sein soll, da eine solche Definition die Lust und andere vertraute Elemente des Glücks außen vor läßt. Im weiteren muß Platon also der Herausforderung gerecht werden zu zeigen, daß sein Verständnis von Glück wirklich als Interpretation dessen, was Menschen typischerweise unter diesem Begriff anstreben, geeignet ist. Dazu muß er das interpretative Netzwerk ausdehnen, so daß auch Lust in dem von ihm im neunten Buch der Politeia und dann später im Dialog Philebos vorgeschlagenen Sinne mit dazugehört.
30 Die Lust wird nun nicht nur als erwünschte Erfahrung, sondern als unverzichtbarer Teil des guten Lebens gefaßt, wenn auch, wie gesagt, nur als Teil. Insgesamt ist diese beeindruckende Konstruktion, ob sie nun erfolgreich ist oder nicht, ein paradigmatisches Beispiel für Moralphilosophie als Interpretation.
Auch bei Aristoteles' Nikomachischer Ethik handelt es sich um eine exemplarische Anwendung der interpretativen Methode. Aristoteles erklärt sein Verständnis der Tugenden, indem er jede von ihnen als die Mitte zwischen zwei Lastern darstellt: Was Tapferkeit ist, begreifen wir, indem wir sie mit dem, was feige, und mit dem, was tollkühn ist, vergleichen; und was Mäßigung bedeutet, indem wir sie mit der Maßlosigkeit, also einer
317 allzu starken nichtrationalen Neigung zu Essen, Trinken und Sex auf der einen Seite und mit der Gleichgültigkeit als einer zu schwachen Ausprägung dieser Neigung auf der anderen Seite kontrastieren, und so weiter. Die Lehre von der Mitte ist eine Interpretationstechnik. Im Rahmen der begrifflichen Interpretation wird oft versucht, eine bestimmte Auffassung von Tugend zu plausibilisieren, indem gezeigt wird, inwiefern sie auf diese Weise zu verstehen dazu beiträgt, einen anderen Wert zu fördern, und an manchen Stellen folgt Aristoteles dieser Strategie. Aber die Lehre von der Mitte funktioniert anders: Hier wird versucht, eine bestimmte Auffassung von Tugend zu verteidigen, indem parallel zu jener bestimmte Auffassungen zweier Laster erarbeitet werden, die bereits als solche akzeptiert sind und nun zunächst als jene Tugend einklammernd dargestellt werden.
Die Tugend als Mitte zwischen zwei Lastern darzustellen ist nicht Ergebnis eines interpretativen Prozesses, sondern vielmehr eine die Interpretation anleitende Strategie. Die interpretative Herausforderung besteht nun darin, eine Auffassung der Tugend zu erarbeiten, die erklärt, warum sie zwischen zwei Lastern angesiedelt zu sein scheint. Es genügt hier nicht, eine Art Goldlöckchen-Gut zu finden, von dem zu viel zu haben Maßlosigkeit bedeutet, ein Zuwenig hingegen Flegelei und schließlich die richtige Menge Mäßigung. Die Tatsache, daß Mäßigung eine Tugend ist und Maßlosigkeit ein Laster, liegt nicht daran, daß ein maßloser Mensch sein Leben mehr genießt als einer, der maßhält, sondern daran, daß ersterer die falschen Dinge genießt. Um die anfängliche Idee einer Einklammerung beizubehalten, müssen wir erklären, was man unbegrenzt genießen kann, weil es gut ist, und was man nicht (oder nicht zu sehr) genießen sollte.
Um diese richtigen und falschen Gegenstände von Lust und Genuß zu
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