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Gerechtigkeit fuer Igel

Gerechtigkeit fuer Igel

Titel: Gerechtigkeit fuer Igel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ronald Dworkin
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hoffe, diese Frage auf diese Weise beantworten zu können. Lassen Sie mich hier mit zwei Ansätzen beginnen, die meines Erachtens als klassische, offensichtliche und besonders lehrreiche Beispiele einer interpretativen Moralphilosophie verstanden werden können.
    Platon und Aristoteles bauten ihre Theorien der Moral und der Politik auf Interpretationen der Tugenden und der Laster auf, und das Spektrum der Begriffe, auf die sie eingehen, reicht von heute eindeutig als persönlich betrachteten Tugenden wie etwa der Weisheit bis zur großen politischen Tugend der Gerechtigkeit. Sie gehen dabei dezidiert holistisch vor. In ihren ausgefeilten interpretativen Argumentationen lassen sich zwei klar unterscheidbare Schritte ausmachen. Sie analysieren zu
314 nächst alle Tugenden und Laster, mit denen sie sich beschäftigen wollen, indem sie ein Verständnis von ihnen ausarbeiten, das darauf beruht, wie sie die jeweils anderen auffassen wollen, und zugleich jene anderen Auffassungen bestärkt. Die Tugenden sind ihnen zufolge also ein sich wechselseitig verstärkendes Netzwerk moralischer Werte. Im zweiten Schritt schlagen sie dann Brücken zwischen dem Netzwerk moralischer und dem ethischer Begriffe.
27 Platon und Aristoteles versuchen zu zeigen, daß ihre Auffassungen jener moralischen Werte richtig sind, weil ein die so verstandenen Werte zum Ausdruck bringendes Leben am besten geeignet sei, einen bestimmten, eudaimonia genannten Zustand hervorzurufen. Eudaimonia wird zwar heute meist als »Glück« übersetzt, aber eigentlich sollte man hier von »dem guten Leben« sprechen – also demjenigen Leben, das Menschen in ihrem eigenen Interesse zu führen bemüht sein sollten.
    Terence Irwin vertritt die Auffassung, daß Sokrates in Platons frühen Dialogen nicht interpretativ argumentiert.
28 In den frühen Dialogen wird vorausgesetzt, daß eine gelungene Definition individueller Tugenden reduktiv sein muß, daß man sie also nur deskriptiv charakterisieren sollte. Einer von Sokrates' Gesprächspartnern in einem frühen Dialog schlägt zum Beispiel eine reduktive Definition von Mut vor: angesichts einer Gefahr standhaft zu bleiben.
29 Sokrates entlarvt in diesen frühen Dialogen alle reduktiven Definitionen, die ihm angeboten werden, als unzureichend, schlägt aber selbst keine eigene Definition vor, sondern erklärt wiederholt, daß er dazu nicht in der Lage ist. In der Politeia ist Sokrates dann durchaus bereit, ein eigenes Verständnis der Tugenden anzubieten, gibt dabei aber die Beschränkung auf eine reduktive Definition auf und übernimmt ein interpretatives Vorgehen.
    Er bietet ein eigenes Verständnis von Tapferkeit, Mäßigung, Weisheit und Gerechtigkeit an, wobei jede dieser Tugenden als von den anderen unterschieden dargestellt wird, da die frühere sokratische Idee, daß alle Tugenden eins sind, weil Wissen sie
315 alle umfaßt, aufgegeben wird. Trotzdem sind sie wechselseitig aufeinander bezogen, so daß der Wert der jeweils anderen zur Definition einer jeden gehört. Zum Beispiel wird die Tapferkeit zwar von der Mäßigung unterschieden, sie kann aber nur über einen Verweis auf letztere definiert werden. Die große Herausforderung, die in der Politeia zunächst von Thrasymachos und dann von Glaukon und Adeimantos an Sokrates herangetragen wird, veranlaßt ihn zu jenem bereits angesprochenen zweiten Schritt der Interpretation. Um zu zeigen, daß eine gerechte Person glücklicher sein muß als eine ungerechte, wird Sokrates aufgefordert, die Gerechtigkeit und das Glück miteinander zu verbinden, beziehungsweise die in jenem ersten Begriff enthaltenen moralischen Tugenden und die ethischen Ambitionen, die den zweiten ausmachen.
    Platon arbeitet seine Auffassungen von Gerechtigkeit und von Glück nicht unabhängig voneinander aus, um dann nachträglich ihre wechselseitige Abhängigkeit zu entdecken. Er stimmt dem damals sehr üblichen Gedanken nicht zu, daß Gerechtigkeit glücklich macht, und weigert sich, die von Thrasymachos angebotene Glücksauffassung als solche zu akzeptieren. Sein Gerechtigkeitsbegriff ist überraschend kontraintuitiv, da er den mentalen Zustand des Handelnden mitumfaßt. Er will also nicht eine Handlung, sondern Personen als gerecht verstehen, und konkret nicht etwa in erster Linie Menschen, die andere berücksichtigen, sondern vielmehr solche, denen es wichtig ist, selbst gut zu sein. Natürlich hat sich Platon wie jeder Philosoph, der einen interpretativen Ansatz verfolgt, bemüht zu

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