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Gerechtigkeit fuer Igel

Gerechtigkeit fuer Igel

Titel: Gerechtigkeit fuer Igel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ronald Dworkin
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Kontextes naheliegender zu sagen, daß etwas einfach falsch ist, als es verräterisch, rücksichtslos, grausam, unehrlich, unanständig, geizig, unvernünftig, knauserig, unwürdig, unfair oder herablassend zu nennen; manchmal behaupten wir, ein bestimmter Mensch habe einen guten Charakter, anstatt ihn als großzügig, tapfer, edelmutig oder selbstlos zu preisen. Zu anderen Gelegenheiten scheinen uns konkretere Aussagen oder Vorwürfe angemessener. Auch wenn wir uns in einem spezifischen Fall also nicht für die konkreteren oder die abstrakteren Urteile entscheiden, stehen sie stets im Hintergrund bereit. Wenn ich eine Handlung unvernünftig oder taktlos nenne, denke ich normalerweise, daß jene Handlung aus ebendiesem Grund oder zumindest teilweise aus diesem Grund falsch ist. Ein Verhalten als moralisch falsch oder einen Menschen als böse zu bezeichnen, ohne vorauszusetzen, daß eine gehaltvollere Beschreibung gegeben werden könnte, die jenes Urteil zumindest in Ansätzen rechtfertigt, wäre irreführend. Die konkreteren und die abstrakteren Begriffen unseres moralischen Repertoires haben jeweils eine eigene Rolle zu spielen, und zuweilen müssen sie diese Rollen auch tauschen.
    312 Wir profitieren von der Flexibilität, die aus den unterschiedlichen Dichtegraden dieser moralischen Begriffe entsteht, auf unterschiedlichste Weise. Zum Beispiel können wir einen Unterschied zwischen Pro-tanto -Erwägungen und unserem Gesamturteil machen: Wir können sagen, daß ein konkretes Verhalten zwar grausam war, zugleich aber das richtige Vorgehen für die betreffende Person zu jenem Zeitpunkt, oder daß eine bestimmte Handlung egoistisch war, der betreffende Mensch aber ein Recht hatte, so zu handeln, und ihm daher kein Vorwurf gemacht werden sollte. (Ich bin im sechsten Kapitel darauf eingegangen, ob es wirklich Konflikte zwischen solchen Werten gibt, wie diese Aussagen es anzudeuten scheinen.) Dünnere Begriffe sind besonders gut dafür geeignet, unsere moralischen Einschätzungen komplexer oder fast ausgeglichener Fälle zum Ausdruck zu bringen, wie etwa den Gedanken, daß es zwar richtig ist, einen Freund, der ein schweres Verbrechen begangen hat, nicht der Polizei zu melden, daß es aber zugleich kein Verrat wäre, dies doch zu tun. Besonders nützlich sind dünne Begriffe also, wenn wir moralische Gründe anderen Gründen gegenüberstellen wollen, die uns ebenfalls als relevant erscheinen. Es ist in solchen Fällen nicht nötig, diese moralischen Gründe bis ins kleinste auszubuchstabieren, da es nur um die folgende Aussage geht: »Ich weiß, daß es falsch ist, kann aber nicht widerstehen!«
26 Diese Unterscheidung zwischen argumentativ mehr oder weniger gut gestützten und mehr oder weniger gehaltvollen moralischen Begriffen spiegelt also unsere moralische Erfahrung wider und ermöglicht sie zugleich.
    Die Tatsache, daß die dünnen Begriffe, denen in der modernen Moralphilosophie am meisten Aufmerksamkeit geschenkt wurde, etwa der Begriff des Guten oder des Richtigen, weniger offensichtlich interpretativ sind als die dichteren Begriffe, muß uns also nicht daran hindern, die Moral und moralische Begründung als interpretativ zu verstehen. Wir nutzen jene Begriffe eindeutig als interpretative Begriffe, denn andernfalls könnten wir was ihren Gebrauch angeht nicht so offensicht
313 lich unterschiedlicher Meinung sein. Um sie aber wirklich auszulegen, müssen wir uns in erster Linie an anderen Begriffen orientieren, weil jene dünneren Begriffe zwar ein Urteil zum Ausdruck bringen, argumentativ aber nicht viel beizusteuern haben. Wenn wir Argumente benötigen, greifen wir auf Interpretationen der dichten Begriffe zurück, wobei auch die dünneren unter den dichten Begriffen, etwa der Begriff des Vernünftigen oder des Gerechten, hier eine Rolle spielen können, und das gibt uns eine gewisse Grundlage, auf der wir jene weniger ausgekleideten Urteile, die in den anfänglich verwendeten dünnen Begriffen zum Ausdruck kommen, rechtfertigen können.
    Platon und Aristoteles
    Wenn moralische Begriffe interpretativ sind, dann folgt daraus, daß sowohl die moralischen Begründungen, die unseren Alltag prägen, als auch jene abstrakteren Debatten der Moralphilosophie interpretative Unterfangen sind. Hilft uns das dabei, einflußreiche moralphilosophische Ansätze der Vergangenheit besser zu verstehen? Ich gehe an verschiedenen Stellen dieses Buches mehr oder weniger ausführlich auf die Theorien bestimmter Philosophen ein und

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