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Gerechtigkeit fuer Igel

Gerechtigkeit fuer Igel

Titel: Gerechtigkeit fuer Igel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ronald Dworkin
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vollkommen in die Irre. Man kann dichte Begriffe nicht auf eine Weise analysieren, die einen kriteriumsabhängigen Grundbegriff zutage fördert.
    Die Behauptung, daß wir uns darüber einig sind, welches Verhalten faktisch als »Feigheit« beschrieben werden kann, und daß nur umstritten ist, ob und mit welcher Vehemenz man dieses Verhalten verurteilen sollte, ist falsch; auch kann die Feigheit nicht in irgendeinen anderen deskriptiven Begriff und eine negative emotionale Aufladung zerlegt werden – welcher Begriff käme hierfür in Frage? Ob es angemessen ist, einen Menschen mutig – oder taktlos, grausam, großzügig – zu nennen, hängt nicht nur davon ab, wie er sich faktisch verhalten hat, sondern auch davon, wie wir seine Handlung moralisch bewerten. Um zu entscheiden, was Mut, Taktgefühl, Grausamkeit oder Großzügigkeit bedeuten – oder anders ausgedrückt, welche Handlungen auf diese Weise beschrieben werden können –, benötigen wir eine Interpretation derselben, denn was der eine für mutig oder für taktvoll hält, nennt ein anderer ungestüm oder unehrlich.
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    Viele Philosophen glauben, daß mit jener Unterscheidung eine wichtige Trennungslinie innerhalb der Moraltheorie anzeigt wird. Williams war zum Beispiel der Meinung, daß moralisches Wissen nur im Zusammenhang mit dichten Begriffen möglich ist. Weil jene in hohem Maße in Praktiken bestimmter
310 Gemeinschaften eingelassen sind und dadurch mit Bedeutung gefüllt werden, können die Mitglieder jener Gemeinschaften hier von einem Wissen sprechen.
25 Viele Philosophen sprechen heute davon, tugendethische Theorien zu vertreten, weil sie betonen, wie wichtig bestimmte dichte Begriffe ihres Erachtens sind. Es handelt sich dabei um einen Versuch, sich generell von jener größeren Gruppe von Moralphilosophen abzusetzen, die nur allgemeine Theorien dünner Begriffe anbieten – zum Beispiel Kantianer, denen es um eine formale Theorie moralischer Pflicht geht, oder Konsequentialisten, die das Gute, nach dem zu streben moralisch geboten ist, genauer zu fassen bekommen wollen. Tatsächlich sind die beiden Klassen aber eng miteinander verwoben und in ihren Funktionen wechselseitig voneinander abhängig, so daß der Gedanke, eine Begriffsart sei wichtiger als die andere oder auf andere Weise mit Wissen verbunden, falsch sein muß. Die eine ist ohne die andere kaum vorstellbar. Wenn wir ein moralisches Gesamturteil zum Ausdruck bringen wollen, ohne es groß oder überhaupt zu verteidigen, verwenden wir einen dünnen Begriff; und dichte Begriffe stellen häufig die Rechtfertigung zur Verfügung, die von dünnen Begriffen zwar vorausgesetzt, aber nicht geliefert wird.
    Diese Unterscheidung ist nicht polar, sondern graduell: Moralische Begriffe haben einen unterschiedlichen Dichtegrad, und für die jeweils angemessene Dichte ist der jeweilige Kontext relevant. In vielen Situationen wäre es ein viel überzeugenderes substantielles Argument, jemanden an ein Versprechen zu erinnern, als ihm Verrat vorzuwerfen; in anderen kann das Gegenteil der Fall sein. Tugendethische Begriffe gehören zu den dichtesten moralischen Begriffen, aber auch hier gibt es graduelle Unterschiede. Zu sagen, daß jemand großzügig oder taktvoll ist, ist natürlich gehaltvoller als die Aussage, er sei ein guter oder tugendhafter Mensch; zugleich sagt es aber weniger, als wenn wir hören, daß er sehr gründlich und korrekt ist. Obwohl die Begriffe Pflicht und Verpflichtung generell als dünn betrachtet werden, sind sie dichter als jene des Guten und des
311 Verbotenen. Wenn wir sagen, daß jemand eine Pflicht oder Verpflichtung hat, gibt das zumindest einen Hinweis darauf, was für eine Art von Anspruch eingefordert werden soll: Wahrscheinlich geht es um ein Versprechen, ein gemeinsames Projekt oder eine besondere Verantwortung, die diese Person aufgrund ihrer spezifischen Rolle oder ihres Status hat. Auch die Begriffe der politischen Moral haben einen unterschiedlichen Dichtegrad. Ein System von Steuersätzen als ungerecht zu bezeichnen sagt einerseits mehr, als es einfach moralisch problematisch zu nennen, und andererseits weniger, als es als repressiv zu bezeichnen.
    Dichte Begriffe sind für die Moral weder wichtiger und zentraler noch weniger wichtig und zentral als dünne. Gemeinsam bilden sie ein System, das nicht wiederzuerkennen wäre, wenn eine der beiden Kategorien fehlen würde. Manchmal ist es aufgrund von Konventionen, einer spezifischen Praxis oder des jeweiligen

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