Gerechtigkeit fuer Igel
genden besser begreifen, entwickeln wir zugleich ein besseres Verständnis dessen, was eine gute Regierung ausmacht, da diese ja von jener gefördert werden. Zugleich können wir etwas über die Tugenden und somit auch über das Glück erfahren, indem wir von der anderen Seite kommen und fragen, welche persönlichen Eigenschaften in einem Staat, den wir für gut befinden würden, einen guten Bürger auszeichnen. Die Politik fügt Aristoteles' interpretativer Analyse eine dritte Phase hinzu – und dasselbe wird auch in diesem Buch geschehen.
321 Teil III
Ethik
323 Kapitel 9
Würde
Ist die Moral ein geschlossener Bereich?
Platon und Aristoteles verstehen die Moral als ein Interpretationsgenre. Sie versuchen, den wahren Charakter der zentralen moralischen und politischen Tugenden herauszuarbeiten, indem sie jene jeweils nicht nur in Relation zu allen anderen Tugenden überdenken, sondern außerdem in einem umfassenderen Zusammenhang ethischer Ideale, die heute meist unter dem Begriff des Glücks zusammengefaßt werden. Wie bereits im ersten Kapitel ausgeführt, verwende ich »ethisch« und »moralisch« auf eine vielleicht etwas ungewöhnliche Weise. Moralische Normen schreiben vor, wie wir andere behandeln sollen, während ethische Standards sich darauf beziehen, wie man sein eigenes Leben führen soll. Beide Worte werden außerdem oft in einem umfassenderen Sinn verwendet – die Moral schließt so verstanden die Ethik mit ein und umgekehrt. Dadurch löst sich die Unterscheidung auf und muß in der Folge anders zum Ausdruck gebracht werden, weil wir ansonsten gar nicht fragen könnten, ob der Wunsch, selbst ein gutes Leben zu führen, uns einen Grund gibt, uns um das kümmern, was wir anderen schulden. Auf der Basis einer solchen alternativen Terminologie könnten wir von einer angemessenen Interpretation moralischer Prinzipien verlangen aufzuzeigen, daß moralisch zu sein uns im von Platon und Aristoteles ins Auge gefaßten Sinn glücklich macht, und das wäre ein interessantes Unterfangen.
Wir werden in diesem Kapitel mit dem eben zusammengefaßten interpretativen Projekt beginnen. Es geht darum, einen bestimmen ethischen Standard herauszuarbeiten – eine Kon
324 zeption der gelungenen Lebensführung, an der wir uns bei der Interpretation moralischer Begriffe orientieren können. Heißt das, daß wir moralische Verantwortung jeweils so verstehen sollten, wie es für uns selbst am besten ist? Das scheint in direktem Widerspruch zur Idee der Moral zu stehen, da Vorteile, die uns aus moralischem Verhalten entstehen, eigentlich keine Rolle spielen sollten. Vielleicht können wir diesem Einwand mit einer bekannten philosophischen Unterscheidung begegnen, und zwar der zwischen dem notwendig kategorischen Gehalt moralischer Prinzipien einerseits und der Rechtfertigung jener Prinzipien andererseits, im Zusammenhang mit der man sich durchaus ohne inneren Widerspruch auf die langfristigen Interessen von durch diese Prinzipien gebundenen Akteuren berufen kann.
Ein Prinzip anzuerkennen, dem zufolge das Lügen selbst dann verboten ist, wenn es in einem konkreten Fall im Vorteil der betreffenden Person läge, könnte durchaus im langfristigen Interesse aller sein. Wenn wir alle eine solche selbstlose Regel akzeptieren, anstatt immer, wenn es in unserem Sinne wäre, tatsächlich zu lügen, wäre das insgesamt für alle von Vorteil. Diese Argumentation scheint jedoch unbefriedigend, weil wir nicht glauben, daß unsere Gründe dafür, moralisch zu sein, auf irgendwelche Eigeninteressen zurückzuführen sind, selbst wenn diese noch so langfristig sind. Wir tendieren eher zu der sehr viel strikteren Ansicht, daß weder die Rechtfertigung noch der Inhalt unserer moralischen Prinzipien von solchen Interessen abhängen sollten. Die Tugend sollte ihr eigener Lohn sein, und kein Versprechen zukünftiger Vorteile sollte notwendig sein, um uns zu veranlassen, unsere Pflicht zu tun.
Eine derart rigorose Haltung würde einer interpretativen Konzeption der Moral jedoch ausgesprochen strikte Beschränkungen auferlegen: Sie wäre mit der ersten der von mir in Platons und Aristoteles' Argumentationsgang identifizierten Stufe vereinbar, nicht aber mit der zweiten. Innerhalb dieser Grenzen können wir eine Integration unserer spezifisch moralischen
325 Überzeugungen anstreben, indem wir auflisten, welche konkreten moralischen Pflichten, Verantwortlichkeiten und Tugenden wir vertreten, und dann all jene Überzeugungen in eine
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