Gerechtigkeit fuer Igel
Verfassung ist hingegen durchaus als abhängig von der Geschichte und nicht von der Moral ver
701 standen worden. Zwei Urteile des Obersten Gerichtshofs aus der jüngeren Zeit sind hier aussagekräftig. Das erste Urteil dreht sich um das im Zweiten Zusatzartikel garantierte Recht auf den Besitz und das Mitführen von Waffen. In der Begründung des Urteils, daß der Zusatzartikel das Recht der individuellen Bürger gegen ein allgemeines Handwaffenverbot schützt, ist der Gerichtshof ausgiebig auf das englische Recht vor dem 18. Jahrhundert eingegangen. Auch die abweichende Meinung bezog sich auf dieselbe historische Epoche, um dieser Schlußfolgerung entgegenzutreten.
19 Der zweite Fall bezog sich auf eine verfassungsrechtliche Bestimmung, die es dem Kongreß nur unter besonderen Umständen erlaubt, das Recht auf habeas corpus , also auf Schutz vor willkürlicher Inhaftierung zu suspendieren, aber nicht spezifiziert, wer andernfalls einen Anspruch auf richterlichen Haftbefehl hat. Mit einer Mehrheit von fünf zu vier hat der Gerichtshof entschieden, daß in Guantánamo Bay inhaftierte Ausländer einen Anspruch auf habeas corpus haben.
20 Hingegen bestand die sehr scharf formulierte abweichende Meinung darauf, daß nur jene Klassen von Menschen, die bereits im 18. Jahrhundert einen Anspruch auf einen richterlichen Haftbefehl hatten, heute einen solchen haben.
21 Die Mehrheitsmeinung hat diese Behauptung nicht zurückgewiesen, sondern entschieden, daß die Geschichte kein klares Urteil erlaubt und die ausländischen Gefangenen einen solchen Anspruch daher gerichtlich einfordern können.
Diese gerichtlichen Debatten würden einen Sinn ergeben, wenn wir der Sichtweise anhängen würden, daß es sich bei Recht und politischer Moral um zwei voneinander getrennte Systeme handelt. Dann könnte es so scheinen, als komme der Geschichte eine entscheidende Bedeutung für die Interpretation der technischeren Bestimmungen der Verfassung zu. Sie erscheint jedoch als viel weniger relevant, sobald wir erkennen, daß die Interpretation der Verfassung darauf abzielt, die Formulierungen der Verfassung so gut und weit wie möglich als Bestimmungen einer gerechten Regierung auszulegen. Die
702 Umstände, mit denen Staaten heutzutage konfrontiert sind, sind von denen des 18. Jahrhunderts vollkommen verschieden, und die damalige Praxis ist größtenteils durch moralische und politische Normen reguliert worden, die wir schon seit langem nicht mehr teilen. Aus diesen Gründen müssen wir innerhalb der Grenzen der Interpretation unser Bestes tun, um die grundlegenden Gesetze unseres Staates in Einklang mit unserem Gerechtigkeitssinn zu bringen, nicht weil es manchmal nötig ist, einen Kompromiß zwischen Recht und Moral zu finden, sondern weil dies genau das ist, was das Recht – recht verstanden – von uns verlangt.
703 Nachwort:
Die Unteilbarkeit der Würde
Noch einmal zurück zur Wahrheit
Der Urknall der galileischen Revolution sicherte die Wissenschaft gegen die Welt der Werte ab, aber mit der Zeit wurde aus der neuen Republik der Ideen ein Imperium. Die Philosophen der Neuzeit bliesen die Methoden der Physik zu einer totalitären Metaphysik auf. All die Worte, mit denen wir eine bestimmte Form der Wertschätzung zum Ausdruck bringen – Wirklichkeit, Wahrheit, Tatsache, Grund, Bedeutung, Wissen und Sein – wurden von ihnen übernommen und vereinnahmt; und es wurden Bedingungen diktiert, unter denen andere Formen des Denkens sich entsprechende Ambitionen anmaßen durften. Die Frage ist nun, ob und wie die Welt der Werte und die der Wissenschaft friedlich koexistieren können.
Mit Hilfe jener großen Bandbreite an »-ismen«, die wir im dritten Kapitel unter die Lupe genommen haben, wurde versucht, dieser Herausforderung gerecht zu werden. Philosophen verschrieben sich dem Existentialismus, Emotivismus, Antirealismus, Expressivismus, Konstruktivismus und jedem anderen nur denkbaren Ansatz. Alle diese Oasen wurden aber schnell trockengelegt, und jede Generation von Philosophen mußte sich eine neue vorstellen, zu der sie dann weiterziehen konnte. Diese Karawane wird wohl auch so rasch nicht zum Stehen kommen. Weil die all jenen Ansätzen zugrundeliegende Idee, daß Werturteile nicht wirklich wahr sein können, jeden Sinn verliert, wenn wir jenes kleine kursive Wort herausnehmen, können sie letztlich nicht überzeugen. Unabhängig von ihrem genauen Funktionieren und allen Ausschmückungen gründen alle diese »-ismen« in einem
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