Gerechtigkeit fuer Igel
irreduzible Vielfalt existierender moralischer Überzeugungen, daß sie nicht von moralischen Wahrheiten verursacht sein können. Wenn sie das wären, müßten wir mit weniger Uneinigkeit rechnen dürfen. Wenn Millionen von Menschen behaupten würden, Einhörner gesehen zu haben, aber vollkommen unterschiedliche Auffassungen über deren Farbe, Größe und Gestalt vertreten, könnten wir ihre Aussagen nicht gelten lassen. Wenn Einhörner tatsächlich existieren würden und sie von all diesen Menschen gesehen worden wären, würden ihre tatsächlichen Eigenschaften zu mehr Übereinstimmung in den entsprechenden Berichten führen.
88 Wie ich im nächsten Kapitel ausführen werde, haben die Vertreter des Fehlerskeptizismus zwar meines Erachtens recht damit, daß moralische Überzeugungen nicht kausal von moralischen Wahrheiten verursacht werden. Diese Überzeugungen sind unserer persönlichen Lebensgeschichte geschuldet und nicht wie auch immer gearteten Begegnungen mit moralischen Wahrheiten. Wenn das richtig ist, so müßten wir genau mit jener Kombination aus Konvergenz und Vielfalt rechnen, die auch tatsächlich zu beobachten ist. Wir alle haben biographisch gesehen sehr viel gemeinsam, angefangen mit dem Genom unserer Spezies. Die Lebensumstände der Menschen sind zu allen Zeiten und an allen Orten so beschaffen, daß zum Beispiel die Ablehnung von Mord aus persönlicher Gewinnsucht sehr wahrscheinlich ist. Andererseits können wir auch große Unterschiede beobachten. Manchmal unterscheiden sich das Lebensumfeld, die wirtschaftliche Situation und die religiösen Überzeugungen von Menschen auf eine Weise, die uns auch hinsichtlich ihrer Moralvorstellungen Unterschiede erwarten läßt. Weil es sich bei dieser Vielfalt schlicht um eine anthropologische Tatsache handelt, kann sie für sich genommen jedenfalls nicht als Beleg dafür gelten, daß alle positiven moralischen Urteile falsch sind. Trotz all der Vielfalt müssen wir darüber urteilen, was wahr ist, und das ist eine Frage der Rechtfertigung bestimmter Überzeugungen, nicht der besten Erklärung ihrer Konvergenz oder Divergenz.
Moral und Motivation
Mackie zufolge implizieren positive moralische Urteile zudem begrifflich die folgende erstaunliche Behauptung: Wenn Menschen eine wahre positive moralische Meinung ausbilden, dann sind sie aus ebendiesem Grund motiviert, entsprechend zu handeln. Wenn es also wahr sein sollte, daß man bei seiner Einkommenssteuererklärung nicht lügen soll, dann müßte die Ak
89 zeptanz dieser Wahrheit dazu führen, daß Sie wie von einem Magnet angezogen dazu tendieren, wahrheitsgemäß Auskunft zu erteilen. Das aber wäre, wie Mackie es ausdrückt, eine »absonderliche« Konsequenz. Auch in anderen Bereichen ist das bloße Akzeptieren einer Tatsache ja noch nicht automatisch mit einer motivierenden Kraft verbunden: Selbst wenn ich zu der Auffassung komme, daß in dem Glas, das vor mir steht, Gift ist, kann es sein, daß ich unter bestimmten Umständen nicht zögern werde, es auszutrinken. Wenn moralische Aussagen auf so bemerkenswerte Weise anders sind – wenn sie stets motivational wirksam sind –, dann muß das auf eine besondere und einmalige Art magnetischer Kraft zurückzuführen sein, die von moralischen Entitäten ausgeht. Mackie nennt den Gedanken eines »objektiven Werts« »absonderlich«, weil er voraussetze, daß ein solcher Wert »von jedem, der ihn erkennt, angestrebt [würde], und zwar nicht aufgrund irgendeiner kontingenten Tatsache, daß dieser Mensch (oder alle Menschen) gerade so beschaffen ist, daß er ebendies wünscht, sondern aufgrund einer diesem Wert innewohnenden Würdigkeit, realisiert zu werden. Und wenn es objektive Prinzipien für Richtig und Falsch gäbe, dann wäre jede (mögliche) falsche Verhaltensweise in sich wert, unterlassen zu werden.«
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Was genau wir aus diesen angeblich vernichtenden Metaphern schließen sollen, ist nicht ganz klar. Es ist sicher richtig, daß es keine Moronen mit zwingender moralischer Kraft gibt. Warum sollte uns das aber veranlassen zu denken, daß zum Beispiel Folter nicht moralisch falsch ist? Vielleicht sind wir zu diesem Schluß genötigt, wenn wir von jener Theorie der moralischen Verantwortung überzeugt sind, die ich bereits kurz angesprochen habe: wenn wir davon ausgehen, daß eine positive moralische Aussage nur dann gerechtfertigt ist, wenn sie durch eine direkte Konfrontation mit einer moralischen – und motivierenden – Wahrheit zustande
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