Gerechtigkeit fuer Igel
Induktion noch Verallgemeinerung kommen in Frage, da beide voraussetzen, daß Sie in der Vergangenheit eine entsprechende moralische Verpflichtung hatten, und das wäre ja eine moralische Behauptung. Auch Deduktion oder semantische Implikation kommen nicht in Frage. Hier ist etwas anderes gefragt: Es muß eine gut versteckte Prämisse oder Annahme darüber im Spiel sein, was eine gute moralische Begründung ausmacht, und diese muß moralische Überzeugungskraft besitzen.
Wenn ich mit jemandem konfrontiert bin, der offenkundig an starken Schmerzen leidet, dann scheint tatsächlich diese Tatsache selbst einen Grund darzustellen, warum ich ihm helfen sollte, wenn ich dazu in der Lage bin. Dem ist nichts hinzuzufügen. Meines Erachtens ist dieser Eindruck aber darauf zurückzuführen, daß wir ohne viel nachzudenken eine grundsätzliche Pflicht als selbstverständlich akzeptieren, Menschen in großer Not zu helfen, wenn das ohne große Anstrengungen möglich ist. Nehmen wir nun an, ich würde solche moralischen Hintergrundannahmen explizit zurückweisen. Nehmen wir an, ich würde mich hinsichtlich einer allgemeinen Pflicht, leidenden Menschen in Situationen wie diesen zu helfen, jeglicher Meinung enthalten, und einfach darauf bestehen, daß mir allein aufgrund dieses konkreten Falls von Leiden, mit dem ich konfrontiert bin, unter Absehung von jedweden Annahmen der eben beschriebenen Art, eine entsprechende moralische Verantwortung zukommt. Meine Äußerung wäre dann nicht länger selbstverständlich, sondern unverständlich.
In diesem Zusammenhang ist noch ein anderer Einwand angeführt worden.
5 Einige Philosophen gestehen in Übereinstimmung mit dem Hume'schen Prinzip zu, daß nichtmoralische
84 Tatsachen für sich genommen keine moralische Aussage stützen können. Daraus folge aber nicht, daß solche Fakten kein Argument gegen eine bestimmte moralische Position sein können. Daher könne der externe Skeptizismus, der nur auf die Aushebelung anderer Positionen abzielt, sehr wohl vereinbar mit dem Hume'schen Prinzip sein. Wenn es sich bei dieser Art des Skeptizismus, wie ich behaupte, selbst um eine moralische Position handelt, ist dieser Rettungsversuch jedoch zum Scheitern verurteilt. Wenn jemand die moralische Auffassung entkräften möchte, daß wir verpflichtet sind, andere nicht zu betrügen, läuft das im wesentlichen darauf hinaus, die These zu vertreten, daß wir keine derartige Verpflichtung haben. Darüber hinaus gibt es zwar noch eine Reihe weiterer Einwände gegen das Hume'sche Prinzip, die aber meines Erachtens letztendlich alle ohne Erfolg bleiben.
6
Natürlich spricht aus der Perspektive des Hume'schen Prinzips nichts dagegen, daß wir uns im Rahmen unterschiedlicher Disziplinen mit der Moral als einem sozialen und psychologischen Phänomen befassen – etwa in der Soziologie, der Psychologie, der Primatologie, der Genetik, der Politikwissenschaft, aber auch einfach als verantwortungsbewußte Laien. Wir müssen uns auch nicht von dem Versuch abwenden, eine Naturgeschichte des moralischen Gefühls und der moralischen Überzeugungen auszuarbeiten, die meines Erachtens auch Teil von Humes eigenem Ansatz war. Aus Geschichte und Gegenwart der menschlichen Moral können wir viel über sie und uns selbst lernen. Wir können darüber nachdenken, warum bestimmte moralische Überzeugungen in manchen Kulturen und Gemeinschaften weitverbreitet sind, in anderen aber nicht; welche Formen von Beeinflussung und Druck dazu beitragen, entsprechende Überzeugungen als soziale Normen weiterzutragen; in welcher Entwicklungsphase Kinder in welchem Maße empfänglich für moralische Forderungen und Vorwürfe werden; warum bestimmte moralische Ansichten fast allen Menschen gemeinsam sind; und in welchem Verhältnis etwa die ökonomi
85 schen Lebensbedingungen einer konkreten Gemeinschaft zum Inhalt der dort verbreiteten moralischen Überzeugungen stehen.
All das sind wichtige und faszinierende Probleme, die von anderen natürlich sehr viel präziser ausbuchstabiert worden sind als von mir hier. Alle diese Fragen müssen jedoch von der uns momentan beschäftigenden Frage unterschieden werden, die den meisten von uns zudem als grundlegender erscheint: Welche moralischen Urteile sind wahr? Das Hume'sche Prinzip ist nur für diese Fragestellung relevant. Aufgrund ihrer Vieldeutigkeit versperrt die Idee der Erklärung manchmal jedoch unseren Blick auf die fundamentale Unterscheidung zwischen moralischen Urteilen und
Weitere Kostenlose Bücher