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Gerechtigkeit fuer Igel

Gerechtigkeit fuer Igel

Titel: Gerechtigkeit fuer Igel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ronald Dworkin
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Selbst wenn wir der alternativen Sichtweise anhängen würden, könnten wir darauf bestehen, daß für uns allein die Befriedigung unserer wirklichen Wünsche gut ist. Dann hätten wir ein ähnliches Verständnis wie Williams davon, was es bedeutet, einen Grund zu haben. Aber ebenso könnten wir behaupten, daß es für uns Menschen gut ist, anständig und unserer Selbstachtung gemäß zu leben, und daß Stalins brutales Vorgehen daher unabhängig von seiner eigenen Auffassung schlecht für ihn war. In dieser alternativen Sichtweise werden Fragen der Rationalität mit solchen der ethischen Theorie verbunden.
    Wie sollen wir entscheiden, welche Auffassung dessen, was es heißt, einen Grund zu haben, richtig ist – Williams' Sichtweise, die Gründe an Wünsche bindet, oder die hier vorgeschlagene alternative Sichtweise, die das nicht tut? Handelt es sich dabei einfach um eine Frage des Sprachgebrauchs, die durch die Identifikation der richtigen oder normalen Verwendung der betreffenden Formulierung entschieden werden sollte? Nein, denn es gibt keine richtige oder normale Verwendungsweise. Manchmal verwenden wir die Formulierung »einen Grund haben« tatsächlich in einem eher instrumentellen Sinn, was für Williams' Auffassung zu sprechen scheint. Wir könnten zum Beispiel sagen, daß Stalin Grund hatte, seine potentiellen Rivalen zu ermorden, weil er seine Machtposition sichern wollte. Wir verwenden diese Formulierung jedoch auch mit der entgegengesetzten Bedeutung: Zu sagen, daß wir immer einen Grund haben, uns moralisch richtig zu verhalten, scheint kein sprachlicher Fehler zu sein. Müssen wir also behaupten, daß zwischen
93 den beiden philosophischen Ansätzen kein echter Widerspruch besteht? Daß beide alternative Sichtweisen vereinbar sind, weil man die Formulierung »einen Grund haben« auf unterschiedliche Weise verwenden kann und eine Entscheidung für eine der beiden Weisen daher nichts mit gewichtigen philosophischen Problemen wie dem Fehlerskeptizismus zu tun haben kann? Aber warum ist dieses Mißverständnis dann in der Philosophie nicht schon vor langer Zeit bemerkt worden? Wieso wird diese Debatte immer noch für gegenständlich und wichtig gehalten?
    Wenn sich die Debatte nicht nur um eine Illusion oder um den normalen Sprachgebrauch dreht, worum geht es dann? Im achten Kapitel werde ich näher auf eine bestimmte Kategorie von Begriffen eingehen, die ich »interpretative Begriffe« nenne. Obwohl wir uns im Fall dieser Begriffe nicht darüber einig sind, welches Verständnis das beste ist, teilen wir sie miteinander. Um zu begründen, warum ein bestimmtes Verständnis den anderen vorzuziehen ist, entwerfen wir Theorien oder Analysen, aus denen hervorgehen soll, daß unser Verständnis dem Wert, der in dem jeweiligen Begriff zum Ausdruck kommt, am besten gerecht wird. Solche theoretischen Auffassungen oder Begriffsanalysen bleiben natürlich kontrovers, und darum konkurrieren im philosophischen Diskurs ebenso wie in unseren tagtäglichen Gesprächen stets alternative Verständnisse miteinander. Unser Begriff des Habens eines Grundes ist ein solcher interpretativer Begriff.
11 Um die Frage nach dem besten Verständnis eines Begriffs zu beantworten – etwa die Frage, ob Stalin wirklich einen Grund hatte, sich seiner Rivalen nicht zu entledigen –, hilft es nichts, einfach eine Definition zu stipulieren und dann von dieser Definition auf die Antwort zu schließen. Wir müssen vielmehr ein umfassenderes System von Werten unterschiedlicher Art entwickeln, zu dem auch ein bestimmtes Verständnis von Rationalität gehört und das eine bestimmte Auffassung oder Interpretation dessen, was es heißt, einen Grund zu haben, rechtfertigt.
    94 Aus diesem System muß unter anderem hervorgehen, warum es uns wichtig ist, Gründen gemäß zu handeln. Dabei handelt es sich aber weder um eine psychologische noch um eine motivationale, sondern um eine normative Fragestellung, denn es geht nicht darum, ob uns dieser Gesichtspunkt wichtig ist, sondern warum er es sein sollte. Wenn wir Rationalität so verstehen, daß ein Mensch auch dann Grund hat, sich um die Erfüllung bestimmter Wünsche zu bemühen, wenn diese Erfüllung schlecht für ihn wäre, ist das nicht besonders hilfreich und kann keine rechtfertigende Rolle spielen. Weil also eine ethische Theorie, aus der ja hervorgeht, was gut oder schlecht für uns ist, in eine Theorie der Gründe und der Rationalität eingebunden sein muß, ist die oben beschriebene

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