Gerechtigkeit fuer Igel
über moralische Tatsachen, die von unseren mentalen Zuständen unabhängig sind; daß sie, mit anderen Worten, nicht wahrheitsfähig sind. Unbestimmbarkeit zu behaupten ist hingegen offensichtlich ein substantielles moralisches Urteil, und jemand, der im Hinblick auf Abtreibungen nicht an die Möglichkeit einer richtigen Antwort glaubt, weil seines Erachtens die Argumente der einen Seite nicht besser sind als die der anderen, kann zugleich vollkommen mit der gewöhnlichen Sicht der Moral übereinstimmen und viele andere moralische Urteile ganz unproblematisch für wahr oder falsch halten.
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Die Diagnose der Unbestimmtheit ist uns im Zusammenhang mit Werturteilen außerhalb des Bereichs der Ethik und der Moral sehr viel vertrauter und scheint mir dort oft auch leichter zu akzeptieren zu sein. Manche Menschen, die entweder über einen außergewöhnlichen Geschmackssinn verfügen oder auch nur außergewöhnlich selbstsicher sind, sind überzeugt, in bezug auf zwei beliebige Flaschen Wein stets entscheiden zu können, welche besser und welche schlechter ist, und außerdem jederzeit bereit, uns mitzuteilen, wie ihr Urteil ausfällt. Trotzdem erscheint auch die Auffassung, daß manchmal keine der beiden Flaschen besser ist, obwohl sie qualitativ nicht vollkommen identisch sind, als durchaus plausibel. Wir kön
156 nen zum Beispiel sagen, daß sie qualitativ »auf einer Stufe« stehen.
2 Auch eine noch radikalere Position ist denkbar, nämlich die, daß die Qualität des Weins rein subjektiv ist und daher allen Weinliebhabern zum Trotz nicht objektiv bewertet werden kann. Das würde bedeuten, daß wir nie sagen können, welcher von zwei Weinen besser ist, sondern nur die davon unterschiedene Frage beantworten können, ob einer der beiden einer bestimmten Person mehr zusagt.
Lassen Sie mich zwei weitere Beispiele für solche Urteile außerhalb des Bereichs der Moral anführen. In England vertreibt man sich während gemeinsamer Wochenenden auf dem Land gern die Zeit damit zu diskutieren, wer oder was auf einem bestimmten Feld am besten ist – zumindest war das vor der Zeit der DVD ein beliebtes Spiel. Ist Donald Budge ein besserer Sportler als David Beckham oder umgekehrt? Und wie schneiden Mark Aurel und Winston Churchill im Bereich der Staatskunst ab? Ist Picasso ein größerer Künstler als Beethoven? Einfach zu erklären, daß solche Fragen absurd sind und es keinen Sinn hat, das Meistern so unterschiedlicher Herausforderungen, Rollen und Situationen zu vergleichen, ist sehr verlockend. Wäre die vernünftigste Antwort nicht, die Erfolge dieser Menschen als inkommensurabel zu betrachten und zu erklären, daß Picasso Beethoven im Bereich der Kunst weder voraus ist noch hinter ihm zurückbleibt und daß auch die Behauptung, die beiden hätten eine genau identische Leistung vollbracht, unsinnig ist? Vielleicht könnte man sagen, daß sie auf einer Stufe stehen.
Juristen haben lange Zeit debattiert, ob der zweite Zusatzartikel der US -amerikanischen Verfassung den Bürgern ein Recht auf den Privatbesitz von Waffen zusichert, bevor der Oberste Gerichtshof der Vereinigten Staaten die Frage mit fünf gegen vier Stimmen entschied.
3 Es gab und gibt gute Argumente dafür und dagegen, weshalb viele Juristen und Jurastudenten gern glauben möchten, daß es nicht die eine richtige Antwort gibt, sondern nur eine Reihe von unterschiedlichen Antworten, die
157 jeweils bestimmten politischen Gruppierungen zusagen und mit unterschiedlichen verfassungstheoretischen Positionen verbunden sind.
Zum internen moralischen Skeptizismus gehören nicht nur negative moralische Urteile, etwa über den moralisch unproblematischen Charakter von einvernehmlichen Sexualpraktiken zwischen Erwachsenen, sondern auch Aussagen, die bestimmte moralische Fragen für unentscheidbar und bestimmte moralische Werte für inkommensurabel erklären. Unbestimmtheit und Inkommensurabilität sollten von einer dritten Möglichkeit unterschieden werden, nämlich dem moralischen Konflikt. Vielen Menschen zufolge hatte Antigone zwei konfligierende moralische Pflichten: ihren Bruder zu begraben und dies nicht zu tun, so daß sie nicht umhinkonnte, ein Unrecht zu begehen. Hier geht es nicht darum, daß die Zuschreibung einer bestimmten Pflicht weder falsch noch richtig ist; vielmehr ist es richtig, daß sie zwei sich widersprechende Pflichten hatte.
4 Es geht also nicht um Unbestimmtheit, sondern sozusagen um Überbestimmtheit. Weil aus einer solchen
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