Gerechtigkeit fuer Igel
Abtreibungsverbot sein, weil Abtreibung ein furchtbares Vergehen wäre, wenn sich herausstellen sollte, daß Föten tatsächlich Personen sind. Wenn wir glauben, daß es sich hierbei um eine unentscheidbare Frage handelt, daß es also nicht die eine richtige Antwort gibt, kann diese Argumentation der Kirche uns nicht überzeugen. Natürlich könnten wir uns aus anderen Gründen für das empfohlene Verhalten entscheiden, zum Beispiel weil wir denken, daß Menschen, die Föten zu Unrecht für Personen halten, emotional
160 nicht damit umgehen können, wenn Frauen Schwangerschaften abbrechen, und daß man Abtreibungen aus diesem Grund verbieten sollte. Umgekehrt könnten wir auch der Meinung sein, daß es ungerecht wäre, die Handlungsfreiheit schwangerer Frauen auf diese Weise von staatlicher Seite einzuschränken, ohne daß ein positiver Grund dafür vorliegt. Wir hätten aber keinen Grund, so zögerlich oder gequält zu reagieren wie andere Menschen, die sich in dieser Frage nicht sicher sind.
Sobald wir Ungewißheit von Unbestimmtheit unterschieden haben, sehen wir daher, daß wir für letztere ebenso starke positive Argumente benötigen wie dafür, andere positive Antworten zu geben. Wie kann ich die Behauptung rechtfertigen, daß keiner von zwei hochgelobten Weinen besser ist als der andere und daß sie auch nicht genau gleich gut sind? Oder daß es falsch wäre, entweder Beethoven oder Picasso für den größeren Künstler zu halten oder Budge für den besseren Sportler? Um solche Behauptungen verteidigen zu können, brauchen wir eine positive Theorie, die festlegt, was im Fall von Wein, Kunst oder Sport eine Höchstleistung ausmacht. Ich gehe davon aus, daß Sie ebenso wie ich bereit sind und sich auch für fähig halten, im Bereich der Kunst zumindest gewisse vergleichende Urteile zu fällen. Daß wir Picasso für einen besseren Maler als Balthus und vielleicht auch als Braque halten und daß wir der Meinung sind, Beethoven sei Andrew Lloyd-Webber als Komponist vorzuziehen, zeigt, daß uns entsprechende Vergleiche nicht prinzipiell absurd erscheinen.
Ich halte Braque für einen überaus wichtigen Künstler, denke aber, daß Picasso letztendlich bedeutender war. Wenn man mich auffordern würde, diese Einschätzung zu verteidigen, könnte ich das auf vielfältige Weise versuchen – zum Beispiel, indem ich auf Picassos größere Originalität und seinen Einfallsreichtum verweise oder darauf, daß in seinem Werk spielerische ebenso wie tiefgründige Elemente zu finden sind, zugleich aber zugebe, daß auch Braques Œuvre seine Stärken hat, etwa eine lyrischere Herangehensweise an den Kubismus. Weil
161 künstlerische Leistung ein komplexes Thema ist und ich eine recht allgemeine Beurteilung vorgenommen habe, wäre wahrscheinlich eine ziemlich vielschichtige Diskussion möglich, bevor unser Gespräch albern würde – anders als wenn wir debattierten, ob Château Pétrus oder Château Lafite der edlere Wein ist. Vielleicht kann ich Sie überzeugen, daß meine Einschätzung von Picasso und Braque die richtige ist, vielleicht auch nicht; unter Umständen gelingt es Ihnen, mich für Ihre Position zu gewinnen. Wenn aber keiner von uns beiden den anderen überzeugen kann, bleibe ich weiterhin bei meiner Meinung und Sie zweifellos bei der Ihren. Zwar fände ich es möglicherweise enttäuschend, daß es mir nicht gelungen ist, Ihre Meinung zu ändern, würde meine Position aus diesem Grund aber natürlich nicht für widerlegt halten.
Wenn man mich jedoch fragen würde, ob Picasso ein größeres Genie war als Beethoven, würde ich ganz anders reagieren. Ich würde darauf bestehen, daß keiner der beiden dem anderen in dieser Hinsicht überlegen sei, daß sie zudem auch nicht genau gleichermaßen verdienstvoll sind und daß beide große Künstler waren, die man nicht auf diese Weise miteinander vergleichen kann. Wir müssen nun herausarbeiten, was diese Frage von den vorangegangenen unterscheidet. Warum kann ich Picasso mit Braque vergleichen, nicht aber mit Beethoven? Die Antwort lautet nicht, daß es bestimmte feste Maßstäbe gibt, die einen Vergleich von Künstlern derselben Periode oder desselben Genres ermöglichen. Es gibt keine derartigen allgemein anerkannten Maßstäbe, und selbst wenn es sie gäbe, wäre keineswegs sicher, daß es sich dabei um die richtigen Maßstäbe handelt. Die unterschiedliche Reaktion kann nichts mit kulturellen oder sozialen Tatsachen wie der Einigung auf bestimmte Maßstäbe zu tun
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