Gerechtigkeit fuer Igel
haben, sondern muß, wenn sie überhaupt gerechtfertigt sein soll, auf allgemeinen, vielleicht sogar abstrakt-theoretischen Annahmen darüber beruhen, was eine künstlerische Leistung ausmacht und wie wir sie bewerten sollten. Meines Erachtens geht es letztendlich darum, wie die betref
162 fende Person einer künstlerischen Herausforderung und einer Tradition gerecht geworden ist, und darum kann man innerhalb eines bestimmten Genres genauere Abstufungen vornehmen als über Genregrenzen hinweg; das gilt natürlich noch in stärkerem Maße, wenn die Künstler zudem in derselben kunstgeschichtlichen Periode tätig waren. Dementsprechend würde ich zwar behaupten, daß Shakespeare ein größerer Künstler war als Jasper Johns, und Picasso besser als Vivaldi, aber zugleich die Ansicht vertreten, daß im Fall von offensichtlichen Genies, die in ihrem jeweiligen Genre unübertroffen sind, keine genaue Hierarchisierung möglich ist. Allerdings handelt es sich dabei nicht um eine besonders feste Überzeugung, und ich könnte mir gut vorstellen, meine Meinung in dieser Frage irgendwann zu ändern, auch wenn ich sie gegenwärtig für richtig halte. Wenn Sie Ihre eigene Position explizit artikulieren würden, würde sich vermutlich herausstellen, daß sie sich von der meinen unterscheidet, vielleicht sogar auf radikale Weise.
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Wenden wir uns nun der These der Ungewißheit im praktisch bedeutsameren Bereich der Ethik zu. Manchmal müssen wir Entscheidungen treffen, die für unser Leben außerordentlich folgenreich sein werden, und denken deswegen darüber nach, welchen Wert die verschiedenen uns offenstehenden Lebenswege wohl für uns hätten. Stellen wir uns eine junge Frau vor, die sich zwischen einer vielversprechenden Karriere als im öffentlichen Interesse handelnde Juristin in Los Angeles und einem Leben im Kibbuz in Israel entscheiden muß. (Selbstverständlich hätte sie zudem zahlreiche andere Optionen, aber lassen Sie uns der Einfachheit halber annehmen, daß nur diese zwei relevant sind.) Es ist durchaus denkbar, daß ihr diese Entscheidung außerordentlich schwerfällt. Welches Leben würde ihr im Alltag mehr Freude bereiten? Mit welchem wäre sie im nachhinein zufriedener? Welche Rolle wäre erfolgversprechender? In welchem Leben hätte sie mehr Möglichkeiten, anderen zu helfen? Unter Umständen kann sie keine dieser Fragen mit Sicherheit beantworten und auch nicht sagen, wie sie gegenein
163 ander abzuwägen sind. Eine solche Situation wird oft jedoch nicht als Ungewißheit, sondern als Unbestimmtheit beschrieben, und zwar mit der Begründung, daß es keine richtige Antwort auf die Frage gebe, welches Leben besser wäre oder welche Wahl sie treffen sollte, da beide Optionen ein lohnendes Leben in Aussicht stellen.
6 Sie muß sich nur entscheiden. Es könnte durchaus sein, daß diese Beschreibung zutrifft, aber wir können sie nicht einfach als richtig voraussetzen. Um eine solche Behauptung zu rechtfertigen, sind ebenso starke positive Argumente erforderlich wie etwa für die Aussage, daß sie gut daran täte, nach Israel auszuwandern. Es genügt nicht, auf die offensichtliche Tatsache hinzuweisen, daß viele Werte berücksichtigt werden müssen und ein einzelnes Leben nicht allen gerecht werden kann, weil trotzdem eine der beiden Optionen die bessere sein könnte – ebendarum bleibt diese Frage für Philosophen eine abstrakte Herausforderung und für die Handelnde ein quälendes praktisches Problem.
Selbst wenn Fälle wie dieser weniger exotisch sind als die Einstufung von Weinen, Sportlern oder Künstlern, kann man auch hier nicht von einer Grundeinstellung sprechen. Ich kann mir in etwa vorstellen, wie die These der Unbestimmtheit in jenen weniger wichtigen Fragen argumentativ verteidigt werden könnte, und auch im Bereich der Ethik läßt sich vielleicht aus meiner noch folgenden Erörterung der ethischen Herausforderung, mit der wir alle im Rahmen unserer Lebensführung konfrontiert sind, eine entsprechende Begründung gewinnen. Der adverbiale Wert einer bestimmten Lebensweise hängt unter anderem davon ab, in welchem Verhältnis dieses Leben zu anderen Werten steht, und es ist denkbar, daß jene Frau positive Gründe für die Auffassung hat, der Wert eines Lebens im Kibbuz sei mit jenem inkommensurabel, der mit einer juristischen Tätigkeit im Interesse bedürftiger Menschen in den Vereinigten Staaten verbunden ist. Das würde bedeuten, daß hier keine eindeutigen Gründe vorliegen.
Jedenfalls
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