Gerechtigkeit fuer Igel
Künstlern oder Sportlern erscheint es durchaus plausibel, daß man auf der Basis der richtigen Theorie ästhetischer oder sportlicher Höchstleistungen eingrenzen kann, wann solche Entscheidungen vernünftig sind und warum es zum Beispiel unsinnig wäre, Picasso und Beethoven gegeneinander abwägen zu wollen. Ob dies auch im Bereich der Moral funktionieren würde, ist aber keineswegs offensichtlich. Meines Erachtens ist es sogar eher unwahrscheinlich, daß aus einer plausiblen Auffassung des Zwecks der Moral abgeleitet werden kann, daß es unsinnig wäre, darüber zu diskutieren, ob Abtreibungen moralisch erlaubt sind.
Wenn mit Blick auf eine tiefgehende und scheinbar unversöhnliche Kontroverse erklärt wird, daß eine bestimmte Position wirklich die besseren Gründe auf ihrer Seite hat, wird das von betont nüchternen Menschen oft als oberflächlich oder dogmatisch verspottet. Wenn Sie sich für eine Seite entscheiden, wird man Ihnen vorwerfen, daß Sie die offensichtliche Wahrheit nicht erkennen können, nämlich daß es hier keine Tatsachen gibt und nicht die eine richtige Antwort. Diese Kritiker fragen sich gewöhnlich nicht, ob sie überhaupt selbst substantielle Argumente für ihre gleichermaßen substantielle Position haben, und wenn ja, ob man diese nicht ebenfalls als zu vage, nichtüberzeugend, instinktbasiert oder sogar als bloße Behauptungen lächerlich machen könnte. Absolute Gewißheit ist das Privileg der Narren und der Fanatiker. Wir übrigen müssen einfach unser Bestes tun und uns auf eine der möglichen substantiellen Positionen festlegen, indem wir fragen, welche uns nach eingehender Überlegung plausibler erscheint als die anderen. Und wenn keine der Optionen als plausibler erscheint, dann müssen wir uns mit der wahren Grundeinstellung begnügen – also nicht mit Unbestimmtheit, sondern mit Ungewißheit. An dieser Stelle geht es mir, um es noch einmal zu betonen, nur darum, eine bestimmte Form des internen
167 Skeptizismus im Bereich von Ethik und Moral zu problematisieren. Vor jenem internen Skeptizismus, der uns überfällt, wenn wir nachts allein mit unseren Gedanken an unsere eigene Sterblichkeit konfrontiert werden, vor dem verstörenden Gedanken, daß nichts im Leben einen Sinn hat, können uns diese Überlegungen nicht retten. Mit Argumenten läßt sich hier wenig ausrichten; letztendlich bleibt uns nur, darauf zu warten, daß ein neuer Tag beginnt.
169 Teil II
Interpretation
171 Kapitel 6
Moralische Verantwortung
Verantwortung und Interpretation
Agenda
Lassen Sie mich noch einmal zusammenfassen, was bisher gesagt wurde. Die Moral ist eine unabhängige Sphäre des Denkens. Das Hume'sche Prinzip, dem zufolge in jeder Argumentation, die ein moralisches Urteil entweder bestätigen oder entkräften kann, wiederum eine moralische Aussage oder Annahme enthalten sein muß, ist korrekt – und seinerseits ein moralisches Urteil. Aus diesem Grund ist hier nur ein interner Skeptizismus plausibel, der unser Streben nach Wahrheit in solchen Fragen nicht bestreitet, sondern sogar voraussetzt. Die »realistische« Sichtweise, daß manche moralischen Urteile objektiv wahr sind, kann sinnvoll nur über eine moralische Rechtfertigung der substantiellen Behauptung verteidigt werden, daß bestimmte konkrete moralische Urteile – etwa, daß Steuerhinterziehung falsch ist – tatsächlich wahr sind, und es selbst dann wären, wenn niemand das so sehen würde. Wenn wir glauben, daß es gute Gründe dafür gibt, dieses Urteil für wahr zu halten, müssen wir davon ausgehen, daß wir irgendwie mit der Wahrheit hinsichtlich dieser Frage »in Kontakt« sind und unser Urteil nicht rein zufällig wahr ist.
Vielleicht interpretieren Sie diese Unabhängigkeitserklärung schlicht als noch radikalere Form des Skeptizismus: als Skeptizismus bezüglich des Skeptizismus. Damit würden Sie aber falschliegen, weil diese Überlegung mit dem moralischen Skeptizismus vereinbar ist. Es ist durchaus möglich, die Moral für unabhängig zu erklären und zugleich zu behaupten, daß es über
172 haupt keine moralischen Pflichten oder Verantwortlichkeiten gibt, wenn man denn dieser Meinung ist – und eine radikalere Form von Skeptizismus ist kaum vorstellbar. Wäre es für Sie intellektuell oder in irgendeiner anderen Hinsicht besser, wenn Sie aufgrund einer metaphysischen oder soziologischen archimedischen Überlegung zu dieser dramatischen Einsicht gelangt wären, anstatt sie moralisch zu begründen? Und
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