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Gerechtigkeit fuer Igel

Gerechtigkeit fuer Igel

Titel: Gerechtigkeit fuer Igel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ronald Dworkin
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wäre es aber ausgesprochen voreilig, davon auszu
164 gehen, daß sich die Annahme der Unbestimmtheit stets positiv begründen läßt, wenn Menschen sich zutiefst unsicher darüber sind, für welche Lebensführung sie sich entscheiden sollen. Daher ist es merkwürdig, daß Philosophen, die von einer weitverbreiteten Unbestimmtheit ausgehen, so wenig zum Übergang von Ungewißheit zu Unbestimmtheit zu sagen haben. Nur wenige Menschen, die mit wichtigen Entscheidungen hinsichtlich ihres Berufs oder anderer Lebensbereiche konfrontiert sind, erlauben sich diesen entlastenden Schritt. Wir treten solchen Entscheidungen mit einer ganzen Bandbreite von Emotionen gegenüber – natürlich voller Unsicherheit, aber auch mit sorgenvoller Vorahnung, Überdruß und Angst, mit dem Gefühl, daß wir zwar nicht wissen, wie wir uns entscheiden sollen, daß aber gerade diese Entscheidung außerordentlich wichtig ist. Diese Gefühle werden oft als sehr belastend erlebt. Wenn sie auf einem Irrtum beruhen – wenn es etwa im Fall der jungen Juristin schlicht keine richtige Entscheidung gibt –, dann könnten die Philosophen uns allen einen großen Dienst erweisen, indem sie genau erklären, warum dem so ist.
    Wenden wir uns nun der zumindest in der Rechtswissenschaft sehr beliebten Idee zu, daß auf schwierige Rechtsfragen oft keine richtige Antwort gegeben werden kann.
 7 Im Bereich des Rechts kann es sich dabei ebensowenig um eine Grundeinstellung handeln wie in der Ethik. Wir haben es vielmehr selbst mit einer rechtlichen Stellungnahme zu tun – daß es kein Argument gibt, aufgrund dessen einer Seite der Vorzug gegeben werden muß –, und daher muß auf eine bestimmte Theorie oder Konzeption des Rechts verwiesen werden können. Manche Rechtstheorien stützen tatsächlich einen solchen Schluß, etwa jene kruden Versionen des Rechtspositivismus, denen zufolge rechtliche Gründe nur aus vorangehenden Gesetzen oder richterlichen Urteilen hervorgehen können, da es durchaus möglich ist, daß eine entsprechende offizielle Entscheidung noch nicht vorliegt. Des weiteren gibt es andere, komplexere und plausiblere Rechtstheorien, mit deren Hilfe sich die These der Un
165 bestimmtheit vielleicht in bestimmten Fällen begründen läßt. Das Recht kann daher als Illustration meiner Auffassung dienen, daß die Unbestimmtheitsbehauptung im Gegensatz zum Eingeständnis von Ungewißheit einer positiven Theorie bedarf. Meines Erachtens wird in diesem Zusammenhang auch deutlich, wie schwierig es ist, eine solche Theorie auszuarbeiten, denn ein kruder Rechtspositivismus, der solche Urteile stützen könnte, wird nur von sehr wenigen reflektierten Juristen vertreten. Davon unabhängig gehen jedoch zahlreiche Rechtstheoretiker, die weder einen Rechtspositivismus noch andere Theorien vertreten, aus denen man positive rechtliche Argumente für Unbestimmtheit gewinnen könnte, davon aus, daß es auf bestimmte kontroverse Rechtsfragen keine richtige Antwort gibt,
 8 weil sie einfach irrtümlicherweise annehmen, daß es sich bei Unbestimmtheit um die Grundeinstellung handelt.
    Kommen wir nun auf die Moral zu sprechen. Auf scheinbare moralische Konflikte werde ich, wie gesagt, erst später im Buch eingehen. An dieser Stelle geht es mir nur um die Überzeugung, daß zum Beispiel ebenso viel oder ebenso wenig dafür spricht, Abtreibungen zu verbieten, wie sie zu erlauben, obwohl die jeweils angeführten Argumente nicht gleichermaßen überzeugend sind. Wie können wir diese sehr starke Behauptung verteidigen? Manchmal wird gesagt, die Entscheidung für eine Position hänge letztlich davon ab, ob eine Analogie für Abtreibungen gefunden wird, die überzeugender ist als jene der anderen Seite, also davon, ob Abtreibung eher mit Mord gleichzusetzen ist oder mit einer Appendektomie. Diese Beobachtung ist an sich unproblematisch. Oft wird dem aber wie selbstverständlich hinzugefügt, daß in Wirklichkeit keine der beiden Analogien überzeugender ist als die andere. Wie aber kann diese weitergehende Behauptung gerechtfertigt werden? Was wäre erforderlich, um a priori zu zeigen, daß nicht einmal eine vorläufige oder umstrittene Begründung dafür gefunden werden kann, warum die eine Seite der anderen insgesamt vorzuziehen ist, selbst wenn Dutzende komplexe Gesichtspunkte, die allesamt
166 relevant sind, noch so gründlich und kreativ in die Überlegung einbezogen werden? In den oben diskutierten einfacheren Fällen wie etwa der Bewertung von Wein,

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