Gerechtigkeit fuer Igel
als die Politik im Sinn haben. Meines Erachtens liegen sie auch hinsichtlich des privaten Bereichs falsch, denn wie ich im neunten Kapitel argumentieren werde, verlangt es unsere Würde von uns, anzuerkennen, daß es für ein gelungenes Leben nicht ausreichend ist, zu denken, daß man ein solches führt. Mit Bezug auf die Politik scheint mir diese Einstellung aber noch offensichtlicher fehlgeleitet, weil wir uns dort noch weniger als in allen anderen Aspekten unseres Lebens den Luxus eines Werteskeptizismus leisten können.
In der Politik geht es um Zwang, und wir können unserer Verantwortung als Regierende oder Bürger nicht gerecht werden, ohne anzunehmen, daß die Prinzipien, an denen unser Handeln oder unsere Wahlentscheidungen sich orientieren, seien sie moralischer oder anderer Couleur, objektiv wahr sind. Weder Amtsträger noch Wähler können es einfach dabei belassen zu erklären, daß sie die Theorie der Gerechtigkeit, die ihr Handeln leitet, angenehm finden, daß sie ihre Emotionen oder Einstellungen adäquat zum Ausdruck bringt oder gut zu einem Lebensplan paßt, auf den sie sich festgelegt haben. Auch die Aussage, daß die vertretenen politischen Prinzipien zur nationalen Tradition gehören und daher kein weitergehender Wahrheitsanspruch erhoben werden müsse, reicht nicht aus.
3 Die Geschichte und die politische Gegenwart einer jeden Nation ist ein Kaleidoskop konfligierender Prinzipien und sich stetig wandelnder Vorurteile. Darum kann jede Formulierung der »Traditionen« einer Nation nur Interpretation sein und muß daher, wie wir im siebten Kapitel sehen werden, in separaten
26 Annahmen darüber wurzeln, was wirklich wahr ist. Natürlich streiten sich Menschen immer wieder darüber, welche Gerechtigkeitskonzeption letztendlich wahr ist. Dennoch müssen die Machthaber davon ausgehen, daß das, was sie sagen, stimmt, und deshalb hat die traditionsreiche philosophische Frage, ob moralische Urteile wahr sein können, im Bereich der politischen Moral eine grundlegende Bedeutung und kann nicht ausgeblendet werden. Wir können keine Theorie der Gerechtigkeit verteidigen, ohne dabei zugleich im selben Schritt eine Theorie der moralischen Objektivität zu vertreten. Zu versuchen, ohne eine solche Theorie auszukommen, ist unverantwortlich.
Lassen Sie mich also an dieser Stelle meine philosophisch betrachtet wohl radikalste These zusammenfassen, nämlich die These von der metaphysischen Unabhängigkeit der Werte.
4 Der Gedanke, daß manche Handlungen – etwa kleine Kinder aus Spaß zu quälen – an sich falsch sind, und nicht nur, weil Menschen sie für falsch halten, ist uns allen wohlvertraut und erscheint ganz normal. So etwas wäre selbst dann falsch, wenn niemand das einsehen würde – ein kaum vorstellbarer Fall. Vielleicht sind Sie anderer Meinung und halten eine Version des moralischen Subjektivismus für plausibler. Entscheidend ist für mich nur, daß die Frage, ob die fragliche Aussage wahr ist, eine Sache des moralischen Urteilens und Begründens ist. Die meisten Moralphilosophen gehen davon aus, daß die Idee einer sogenannten »geistunabhängigen« moralischen Wahrheit aus der Moral hinaus- und in die Metaphysik hineinführt, und wir damit vor der Frage stehen, ob es »in der Welt« schimärische Eigenschaften oder Entitäten gibt, die halb moralisch – denn wie sonst könnten sie geistunabhängige moralische Behauptungen wahr machen? – und halb nichtmoralisch sind – denn wie sonst könnten sie moralische Behauptungen »begründen« oder sie objektiv wahr machen? Damit treten sie für eine Art koloniale Philosophie ein, die Botschaften und Garnisonen der Wissenschaft innerhalb des Wertediskurses errichtet, um diesen ordentlich regieren zu können.
27 In alltäglichen Gesprächen bringen Menschen die Vorstellung zum Ausdruck, manche Handlungen seien an sich falsch, und beziehen sich dabei manchmal auf moralische »Tatsachen«: »Es ist eine moralische Tatsache, daß Folter immer falsch ist.« Problematisch wird es aber, sobald Philosophen versuchen, solche unbedarften Aussagen auszuschlachten, indem sie unterstellen, daß eine Behauptung aufgestellt wurde, die der eigentlichen moralischen Aussage noch etwas hinzufügt, und zwar etwas Metaphysisches über moralische Partikel oder Eigenschaften – über Teilchen, die man vielleicht »Moronen« nennen könnte. Auf dieser Grundlage kündigen sie dann philosophische Projekte an, die meines Erachtens reine Scheinprojekte sind.
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