Gerechtigkeit fuer Igel
Gleichheit echte Uneinigkeiten darstellen. Außerdem folgt aus ihr, daß es sich um Uneinigkeiten über Werte handelt, die nicht durch den Verweis auf Tatsachen, Wörterbucheinträge oder den Standardgebrauch eines Wortes aufgelöst werden können. Darüber hinaus müssen wir zur Verteidigung einer bestimmten Auffassung eines politischen Werts wie Gleichheit oder Freiheit auf andere Werte Bezug nehmen, da die Verteidigung einer bestimmten Freiheitskonzeption durch Verweis auf die Freiheit selbst wenig überzeugend und zirkulär wäre. Wir sind demnach auf die Integration der politischen Begriffe angewiesen , weil keine Interpretation eines bestimmten Werts verteidigt werden kann, ohne daß zugleich gezeigt wird, wie sie sich zu überzeugenden Konzeptionen anderer Werte verhält. Dieser Punkt ist ein wichtiges Argument für die Einheit der Werte.
Im achten Kapitel gehe ich ausführlich auf interpretative Begriffe ein, aber zuvor werde ich im siebten Kapitel einige Grundprobleme der Interpretation im allgemeinen erörtern. Auch jenseits der Politik haben wir es in vielen Bereichen mit Interpretation zu tun, etwa in Gesprächen, dem Recht, der Dichtung, der Religion, der Geschichtsschreibung, der Soziologie oder der Psychodynamik. Ist es möglich, eine allgemeine Theorie der Interpretation zu entwickeln, die für alle diese Unterarten Gültigkeit besitzt? Wenn ja, könnte sie uns dabei helfen zu entscheiden, welchen Maßgaben unsere Interpretation wesentlich politischer Begriffe folgen soll. Einem weitverbreiteten Ansatz zufolge geht es stets darum, die Absicht oder einen anderen mentalen Zustand eines Autors oder Schöpfers herauszuarbeiten. Dieses Vorgehen eignet sich zwar für manche Bereiche und bestimmte Fälle, für andere hingegen nicht, so daß wir immer noch eine allgemeinere Theorie brauchen, die uns sagt, unter welchen Umständen und warum die Absichten eines Autors für uns interessant sind. Der Ansatz, den ich hier vorschlage, ist wertebasiert. Wer interpretiert, hat eine kritische Verantwortung, und die beste Interpretation eines Gesetzes, eines Gedichts oder einer Epoche ist diejenige, die dem mit Blick auf
24 die konkrete Situation am besten gerecht wird. Die beste Lesart von W. B. Yeats' Gedicht Sailing to Byzantium ist diejenige, in der die überzeugendste Auffassung des Werts von Gedichtinterpretationen zum Ausdruck kommt oder zugrunde gelegt wird, so daß in diesem Lichte der Wert dieses konkreten Werks möglichst deutlich hervortritt. Da sich Interpreten aber nicht darüber einig sind, welche Verantwortung sie haben und welchen Wert die Interpretation von Gedichten hat, sind sie sich auch in bezug auf die Frage uneins, wie Yeats' Gedicht oder irgendein anderer Gegenstand der Interpretation zu verstehen ist.
Werte und Wahrheit
Meine These ist also, daß die politische Moral auf Interpretationen beruht und diese wiederum von Werten abhängen. Es dürfte inzwischen klargeworden sein, daß es meines Erachtens objektive Wahrheiten über Werte gibt. Ich bin überzeugt, daß manche Institutionen selbst dann wirklich ungerecht und manche Handlungen selbst dann falsch sind, wenn noch so viele Menschen anderer Ansicht sind. Die konträre Position ist heute jedoch weiter verbreitet. Vielen Philosophen und Nichtphilosophen erscheint die Vorstellung absurd, daß es irgendwo »da draußen« im Universum Werte gibt, die darauf warten, von Menschen mit der rätselhaften Fähigkeit, Werte zu erkennen, entdeckt zu werden. Werturteile müssen dieser Sichtweise zufolge ganz anders verstanden werden. Wir werden aufgefordert zu akzeptieren, daß es keine objektiven und von unseren Meinungen und Einstellungen unabhängigen Wahrheiten über Werte gibt, und daß Urteile darüber, was gerecht oder ungerecht, richtig oder falsch, gut oder böse ist, bloßer Ausdruck bestimmter Einstellungen und Emotionen, Empfehlungen, persönlicher Festlegungen oder vorgeschlagener Richtlinien für das eigene Leben sind.
25 Die meisten Philosophen, die diese Auffassung vertreten, verstehen sich nicht als Pessimisten oder Nihilisten. Im Gegenteil glauben sie, daß man ein völlig akzeptables – und zudem intellektuell rechtschaffeneres – Leben führen kann, wenn man sich vom Mythos objektiver unabhängiger Werte verabschiedet und eingesteht, daß Werturteile nur Ausdruck unserer Einstellungen und persönlichen Festlegungen sind. Die Argumente und Beispiele, auf die sie sich berufen, zeigen aber, daß sie dabei eher unser Privatleben
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