Gerechtigkeit: Wie wir das Richtige tun (German Edition)
würden (die liberale egalitäre Ansicht). Dem dritten zufolge gehört es zur Gerechtigkeit, Tugend zu kultivieren und über das Gemeinwohl nachzudenken. Wie inzwischen deutlich geworden sein dürfte, bevorzuge ich eine Version des dritten Ansatzes. Das möchte ich näher erläutern.
Der utilitaristische Ansatz weist zwei Fehler auf: Erstens macht er Gerechtigkeit und Rechte zu einer nicht auf Grundsätzen, sondern zu einer auf Berechnung beruhenden Angelegenheit. Zweitens versucht er, alle menschlichen Güter in einen einzigen, gleichförmigen Wertmaßstab zu übertragen, wodurch er die qualitativen Unterschiede zwischen ihnen einebnet.
Die auf Freiheit beruhenden Theorien lösen das erste Problem, nicht aber das zweite. Sie nehmen die Rechte des Einzelnen ernst und halten daran fest, dass Gerechtigkeit mehr ist als bloßes Kalkül. Zwar sind sie untereinander uneins, welche Rechte Vorrang vor den utilitaristischen Erwägungen haben sollten, aber sie sind sich darin einig, dass bestimmte Rechte grundlegend und zu respektieren sind. Doch abgesehen davon, dass sie gewisse Rechte als achtenswert herausstellen, respektieren sie die Vorlieben der Menschen, wie sie sind. Sie verlangen nicht von uns, die Vorlieben und Wünsche, die wir ins öffentliche Leben einbringen, in Frage zu stellen. Der moralische Wert der von uns verfolgten Ziele, die Bedeutung und das moralische Gewicht unseres Lebens und die Qualität und Art der Gemeinschaft, der wir angehören, sind diesen Theorien zufolge nichts, was wir in unsere Überlegungen zur Gerechtigkeit miteinbeziehen sollten.
Diese Auffassung scheint mir falsch zu sein. Eine gerechte Gesellschaft lässt sich nicht einfach dadurch erreichen, dass man den Nutzen maximiert oder die Freiheit der Entscheidung gewährleistet. Um zu einer gerechten Gesellschaft zu gelangen, müssen wir gemeinsam darüber nachdenken, was es heißt, ein gutes Leben zu führen, und eine öffentliche Kultur schaffen, die mit den unvermeidlich auftretenden Meinungsverschiedenheiten umzugehen weiß.
Die Versuchung ist groß, nach einem Prinzip oder einem Verfahren zu suchen, das die Frage nach der daraus hervorgehenden Verteilung von Einkommen, Macht oder Chancen ein für alle Mal löst. Könnten wir ein solches Prinzip finden, würde es uns in die Lage versetzen, den Tumult und die Streitigkeiten zu vermeiden, die Debatten über das gute Leben stets aufs Neue hervorrufen.
Doch es ist unmöglich, solchen Auseinandersetzungen aus dem Weg zu gehen. Gerechtigkeit ist unausweichlich mit Wertungen verbunden. Ob wir über Finanzhilfen oder Verwundetenabzeichen, über Leihmutterschaft oder gleichgeschlechtliche Ehen reden, über Quotenregelungen für Minderheiten oder Militärdienst, die Bezahlung von Firmenvorständen oder das Recht, einen Golfkarren zu benutzen – Fragen der Gerechtigkeit gehen stets mit konkurrierenden Vorstellungen von Ehre und Tugend, Stolz und Anerkennung einher. Bei der Gerechtigkeit kommt es nicht allein darauf an, etwas auf die richtige Weise zu verteilen. Es geht auch darum, wie die Dinge richtig zu bewerten sind.
Eine Politik des Gemeinwohls
Wenn es zu einer gerechten Gesellschaft gehört, gemeinsam über das gute Leben nachzudenken, bleibt die Frage, wie der politische Diskurs auszusehen hätte, der uns in diese Richtung weist. Darauf habe ich keine gänzlich ausgearbeitete Antwort, aber ich kann ein paar anschauliche Vorschläge anbieten.
Zunächst eine Beobachtung: Heutzutage kreisen unsere politischen Auseinandersetzungen zumeist um Wohlstand und Freiheit – um die Steigerung der Wirtschaftsleistung und die Achtung der Menschenrechte. Die Verknüpfung von Tugend und Politik halten viele Menschen für eine Spezialität der religiös Konservativen, die den Menschen erzählen wollen, wie sie zu leben haben. Doch das muss nicht zwangsläufig so sein. Die Herausforderung besteht darin, sich eine Politik vorzustellen, die moralische und spirituelle Fragen ernst nimmt, sie aber nicht nur auf Fragen der Sexualität und Abtreibung reduziert, sondern auch in weiter gefassten ökonomischen und staatsbürgerlichen Belangen zum Tragen bringt.
Im Lauf meines eigenen Lebens war es Robert F. Kennedy, der diese Hoffnung am ehesten verkörperte, als er sich 1968 darum bemühte, als Präsidentschaftskandidat der Demokraten nominiert zu werden. Für ihn umfasste Gerechtigkeit mehr als die Steigerung und Verteilung des Bruttoinlandsprodukts – sie schloss auch höhere moralische Ziele ein. In
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