Gerechtigkeit: Wie wir das Richtige tun (German Edition)
schwierig ist es aber, sie in der Sprache des moralischen Individualismus zu erklären. Durch eine Ethik der Übereinkunft sind sie nicht zu erfassen. Genau das verleiht diesen Forderungen einen Teil ihrer moralischen Stärke. Sie beziehen sich auf etwas, das uns aufgebürdet ist. Sie reflektieren unsere Natur als Geschichtenerzähler, als Individuen in einer jeweils besonderen Situation.
Was, so dürfte sich mancher fragen, hat all das mit Gerechtigkeit zu tun? Um dies beantworten zu können, wollen wir uns die Fragen in Erinnerung rufen, die uns auf diesen Weg geführt haben. Wir haben herauszufinden versucht, ob all unsere Pflichten auf einen Akt des Willens oder auf eine Wahl zurückzuführen sind. Ich habe vorgebracht, dass das ausgeschlossen ist; Verpflichtungen aufgrund von Solidarität oder Mitgliedschaft können uns aus Gründen fordern, die nichts mit einer Wahl zu tun haben – solche Gründe sind mit den Narrativen verknüpft, mit denen wir unsere Biographie deuten und auch die Gemeinschaften, in denen wir leben.
Doch was steht überhaupt auf dem Spiel in dieser Debatte zwischen der narrativen Erklärung moralischen Handelns und jener, die den individuellen Willen und die Übereinkunft betont? Zum einen geht es um die Frage, wie wir uns die Freiheit des Menschen vorstellen. Wer über die Beispiele nachdenkt, mit denen ich versucht habe, die Verpflichtungen aufgrund von Solidarität und Mitgliedschaft zu illustrieren, stellt vielleicht fest, dass er sich bei der Lektüre dagegen wehrt. Wie viele meiner Studenten dürfte er misstrauisch oder ablehnend auf die Idee reagieren, dass wir durch moralische Verpflichtungen gebunden sind, die wir nicht gewählt haben. Diese Abneigung könnte einen dazu bringen, die sich aus Vaterlandsliebe, Solidarität, kollektiver Verantwortung und so weiter ergebenden Forderungen zurückzuweisen oder sie so umzuformen, als würden sie aus einer Art von Übereinkunft hervorgehen. Man ist versucht, diese Forderungen zu verwerfen oder aus einem anderen Zusammenhang abzuleiten, um sie dadurch mit einer vertrauten Vorstellung von Freiheit in Übereinstimmung zu bringen. Dieser Vorstellung zufolge sind wir nicht durch irgendwelche moralischen Verpflichtungen gebunden, die wir nicht selbst gewählt haben; frei sein heißt demnach, dass wir für alle uns einschränkenden Verpflichtungen selbst verantwortlich sind.
Ich würde aufgrund dieser und anderer in diesem Buch erörterter Beispiele argumentieren, dass diese Vorstellung von Freiheit falsch ist. Doch Freiheit ist nicht das einzige Thema, um das es hier geht. Auf dem Spiel steht auch, wie wir über Gerechtigkeit denken.
Rufen wir uns die beiden Ansätze von Kant und Rawls in Erinnerung, in denen das Recht Vorrang vor dem Guten hatte. Die Grundsätze des Rechts, die unsere Pflichten und Rechte bestimmen, sollten demnach hinsichtlich konkurrierender Vorstellungen vom guten Leben neutral sein. Um zum moralischen Gesetz zu gelangen, müssen wir Kant zufolge von unseren zufallsbestimmten Interessen und Zielen absehen. Rawls argumentiert ähnlich: Um über Gerechtigkeit nachzudenken, sollten wir uns hinter einen Schleier des Nichtwissens begeben und von unseren speziellen Zielen, Bindungen und unseren Vorstellungen vom Guten absehen.
Diese Art, über Gerechtigkeit nachzudenken, steht im Widerspruch zu Aristoteles’ Ansatz: Er ist nicht der Ansicht, dass Grundsätze der Gerechtigkeit in Hinblick auf das gute Leben neutral sein können oder sollten. Aristoteles besteht vielmehr darauf, eine gerechte Verfassung ziele unter anderem darauf ab, gute Bürger zu formen und den guten Charakter zu kultivieren. Er hält es nicht für möglich, über Gerechtigkeit nachzudenken, ohne sich über die Bedeutung der von der Gesellschaft zugeteilten Güter – Ämter, Auszeichnungen, Rechte und Möglichkeiten – Klarheit zu verschaffen.
Kant und Rawls verwerfen Aristoteles’ Denkansatz unter anderem deshalb, weil sie glauben, dass er der Freiheit keinen Raum lässt. Eine Verfassung, die versucht, bestimmte Charaktereigenschaften zu kultivieren oder eine spezielle Form des guten Lebens zu bejahen, läuft in ihren Augen Gefahr, einigen Menschen die Werte anderer aufzuzwingen. Sie respektiert die Menschen nicht als freie und unabhängige Individuen, die fähig sind, ihre Ziele selbst zu wählen.
Wenn Kant und Rawls mit ihrer Konzeption der Freiheit recht haben, dann liegen sie auch in Hinblick auf die Gerechtigkeit richtig. Wenn wir frei
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