Gerechtigkeit: Wie wir das Richtige tun (German Edition)
einer Rede an der University of Kansas am 18. März 1968 sprach Kennedy über den Krieg in Vietnam, die Unruhen in Amerikas Städten, Rassenungleichheit und die erdrückende Armut, die er in Mississippi und in den Appalachen angetroffen hatte. Ausgehend von dieser offenkundigen Frage der Verteilungsgerechtigkeit merkte er an, die Amerikaner hätten angefangen, die falschen Dinge zu schätzen. »Selbst wenn wir uns daran machten, die materielle Armut aus der Welt zu schaffen«, erklärte Kennedy, »gibt es noch eine weitere große Aufgabe. Wir müssen uns der Armut an Zufriedenheit stellen (…), die uns alle betrifft.« Die Amerikaner hätten sich »der bloßen Anhäufung von Dingen« hingegeben. 39
Unser nationales Bruttosozialprodukt beträgt mittlerweile 800 Milliarden Dollar jährlich. Doch dieses Bruttosozialprodukt erfasst Luftverschmutzung und Zigarettenreklame und Rettungswagen, die auf unseren Highways die Folgen der Blutbäder beseitigen. Es rechnet Spezialschlösser für unsere Haustüren mit ein und die Gefängnisse für jene Leute, die sie aufbrechen. Es erfasst die Zerstörung der Mammutbäume und die Vernichtung unserer Naturwunder durch chaotische Zersiedelung. Es rechnet Napalm ein, und es zählt Atomsprengköpfe und gepanzerte Fahrzeuge für die Polizei, die Unruhen in unseren Städten bekämpft. Es umfasst (…) die Fernsehprogramme, die Gewalt verherrlichen, um unseren Kindern Spielzeug zu verkaufen. Doch das Bruttosozialprodukt berücksichtigt nicht die Gesundheit unserer Kinder, die Qualität ihrer Ausbildung oder die Freude beim Spielen. Es umfasst nicht die Schönheit unserer Dichtung oder die Stärke unserer Ehen, die Intelligenz unserer öffentlichen Debatten oder die Integrität unserer Staatsdiener. Es misst weder unseren Verstand noch unseren Mut, weder unsere Weisheit noch unsere Bildung, weder unser Mitgefühl noch die Hingabe an unser Land. Kurz, es misst alles außer dem, was das Leben lebenswert macht. Es kann uns alles Mögliche über Amerika mitteilen, doch nichts darüber, warum wir stolz darauf sind, Amerikaner zu sein. 40
Wer Kennedy gehört hat oder diese Passage liest, könnte vielleicht meinen, dass die moralische Kritik an der Selbstzufriedenheit und materialistischen Haltung seiner Zeit nicht zwangsläufig mit seiner Einstellung zur Ungerechtigkeit von Armut, Vietnamkrieg und Rassendiskriminierung zusammenhing. Doch er sah hier sehr wohl eine Verbindung. Um diese Ungerechtigkeiten aufzuheben, war es nach Kennedys Ansicht notwendig, den selbstgefälligen Lebensstil in Frage zu stellen, den er in seiner Umgebung wahrnahm. Er hielt sich mit Wertungen nicht zurück, doch indem er den Stolz der Amerikaner auf ihr Land ins Spiel brachte, appellierte er zugleich auch an den Gemeinsinn.
Knapp drei Monate darauf wurde Kennedy ermordet. Wir können nur spekulieren, ob die klangvoll angekündigte Politik Früchte getragen hätte, wenn er am Leben geblieben wäre.
Vier Jahrzehnte später nutzte Barack Obama während des Präsidentschaftswahlkampfs 2008 ebenfalls Amerikas Hunger nach einem reicheren öffentlichen Leben und artikulierte eine von moralischem und spirituellem Streben geprägte Politik. Ob es ihm – trotz Finanzkrise und Rezession – gelingt, den moralischen und gesellschaftlichen Schwung seiner Kampagne in eine neue Politik des Gemeinwohls umzusetzen, bleibt abzuwarten.
Wie könnte eine neue Politik des Gemeinwohls aussehen? Hier einige mögliche Themen:
1. Bürgerschaft, Opfer und Dienst
an der Gemeinschaft
Wenn eine gerechte Gesellschaft einen ausgeprägten Gemeinsinn erfordert, dann muss sie einen Weg finden, in den Bürgern die Sorge um das Ganze zu kultivieren – ihnen die Hingabe an das Gemeinwohl näherzubringen. Gegenüber den Haltungen und Absichten, den »Gewohnheiten des Herzens«, die die Bürger ins öffentliche Leben einbringen, kann die Gesellschaft nicht gleichgültig sein. Sie muss versuchen, sich gegen vollkommen aufs Private reduzierte Vorstellungen vom guten Leben zu stemmen und staatsbürgerliche Tugenden zu pflegen.
Seit jeher ist die öffentliche Schule ein Ort staatsbürgerlicher Erziehung gewesen – für einige Generationen war es auch das Militär, das diese Funktion erfüllt hat. Ich meine hier nicht in erster Linie den expliziten Staatskundeunterricht, sondern die praktische, oft unbeabsichtigt staatsbürgerliche Erziehung, die sich ergibt, wenn junge Menschen aus unterschiedlichen wirtschaftlichen Verhältnissen, religiösen Milieus
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