Gerechtigkeit: Wie wir das Richtige tun (German Edition)
entscheidende, unabhängige Individuen sind, ungebunden durch moralische Verpflichtungen, die wir uns nicht selbst auferlegt haben, dann benötigen wir einen rechtlichen Rahmen, der in Hinblick auf individuelle Ziele neutral ist. Wenn das Individuum vor seinen Zielen kommt, dann muss das Recht auch dem Guten vorausgehen.
Wenn dagegen die narrative Vorstellung moralischen Handelns überzeugender ist, lohnt es sich vielleicht, sich Aristoteles’ Annäherung an die Gerechtigkeit noch einmal anzusehen. Falls zum Nachdenken über das, was für mich gut ist, auch gehört, dass ich über das Gute jener Gemeinschaften nachdenke, an die meine Identität gebunden ist, könnte das Streben nach Neutralität ein Irrtum sein. Es könnte unmöglich oder sogar nicht einmal wünschenswert sein, sich über Gerechtigkeit Gedanken zu machen, ohne über das gute Leben nachzudenken.
Die Aussicht, Vorstellungen des guten Lebens in eine öffentliche Debatte über Gerechtigkeit und Rechte einzubringen, dürfte vielen nicht gerade reizvoll erscheinen oder gar erschreckend vorkommen. Denn schließlich sind die Menschen in pluralistischen Gesellschaften wie unserer uneins über die beste Art, sein Leben zu führen. Die liberale politische Theorie kam als Versuch in die Welt, Politik und Gesetzgebung aus moralischen und religiösen Kontroversen herauszuhalten. Die Philosophien von Kant und Rawls stehen für den umfassendsten und klarsten Ausdruck dieses Bestrebens.
Doch dieses Streben kann keinen Erfolg haben. Viele der besonders heiß umstrittenen Fragen der Gerechtigkeit und der Rechte können nicht erörtert werden, ohne dass man moralische und religiöse Kontroversen aufwirft. Will man entscheiden, wie die Rechte und Pflichten von Bürgern zu definieren sind, ist es nicht immer möglich, konkurrierende Vorstellungen vom guten Leben außer Acht zu lassen. Und selbst wenn es möglich ist, dürfte es nicht immer wünschenswert sein.
Fordert man demokratische Bürger auf, von ihren moralischen und religiösen Überzeugungen abzusehen, wenn sie in die Öffentlichkeit treten, mag das so aussehen, als würden damit Toleranz und gegenseitiger Respekt gewährleistet. Praktisch kann es jedoch genau das Gegenteil bewirken. Entscheidet man wichtige öffentliche Fragen auf der Grundlage einer illusionären Neutralität, sind Gegenreaktionen und Ressentiments vorgezeichnet. Eine von substantiellem moralischem Engagement befreite Politik führt zu einem verarmten öffentlichen Leben. Außerdem ist sie eine offene Aufforderung zu engstirnigem, intolerantem Moralismus. Wo Liberale Angst haben, sich zu zeigen, eilen Fundamentalisten herbei.
Wenn unsere Debatten über Gerechtigkeit uns unausweichlich in grundsätzliche moralische Fragen verwickeln, bleibt die Frage, wie diese Auseinandersetzungen ausgetragen werden sollten. Ist es möglich, öffentlich über das Gute nachzudenken, ohne in Religionskriege zu verfallen? Wie sähe eine stärker an moralischen Fragen orientierte öffentliche Debatte aus? Würde sie sich von der Art politischer Auseinandersetzung unterscheiden, an die wir uns gewöhnt haben? Das sind nicht nur philosophische Fragen. Sie liegen im Zentrum aller Versuche, den politischen Diskurs zu beleben und unser öffentliches Leben zu erneuern.
Abtreibung und Stammzellen
Nehmen wir zwei bekannte politische Debatten, in denen man sich zwangsläufig moralisch und religiös positioniert: Abtreibung und Forschung mit embryonalen Stammzellen. Manche Menschen glauben, Abtreibung solle verboten werden, weil sie auf die Tötung unschuldigen menschlichen Lebens hinauslaufe. Andere widersprechen dem; sie meinen, in der moralischen und theologischen Auseinandersetzung über den Zeitpunkt, zu dem menschliches Leben im vollgültigen Sinn beginne, solle der Staat nicht Partei ergreifen. Da der moralische Status des heranreifenden Fötus eine hochaufgeladene moralische und religiöse Frage sei, solle die Regierung in dieser Frage neutral bleiben und den Frauen erlauben, selbst über eine Abtreibung zu entscheiden.
Die zweite Einstellung reflektiert die bekannte liberale Position für ein Recht auf Abtreibung. Sie behauptet, die Frage der Abtreibung auf der Basis von Neutralität und Entscheidungsfreiheit zu lösen, ohne in die moralische und religiöse Kontroverse einzutreten. Doch diese Annahme ist nicht stichhaltig. Denn wenn der sich entwickelnde Fötus moralisch gesehen in Wahrheit ein Kind ist, entspricht die Abtreibung moralisch einem Kindesmord,
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