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Gerissen: Thriller (German Edition)

Gerissen: Thriller (German Edition)

Titel: Gerissen: Thriller (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Abrahams
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und trank einen kleinen Schluck, registrierte die Flüssigkeit, aber nicht den Geschmack, und gab den Gin zurück.
    Die Nacht schien nicht mehr so dunkel. Ivy kroch durch die Öffnung, stand auf dem Vorsprung. Es war windstill, aber über ihr musste der Wind kräftig wehen, wenn er die Wolken so aufriss und vor sich hertrieb. Der Mond ging auf, zuerst verschleiert, dann deutlich sichtbar. Er beleuchtete den See, den Wald, die Berge, eine schwarzsilberne Landschaft. Nichts Menschliches zeigte sich. Hatte sie je etwas Schöneres gesehen? Ivy fühlte sich wie im Inneren eines großen Gemäldes, eines nächtlichen Meisterwerks.
    Harrow trat hinter sie, legte seine Arme um ihre Taille, die Flasche baumelte vor ihrem Bein.
    »Was mir Sorgen macht«, sagte Ivy, »ist der Gedanke, dass du sie noch immer schützt.«
    »Dann kannst du aufhören, dir Sorgen zu machen«, erwiderte Harrow und strich mit den Lippen über ihre Wange.
    Sie musste sich zwingen, nicht wie ein Schulmädchen zu fordern: Versprochen?
    Harrow drückte sie kurz. »Versprochen.«
    Ein großer Vogel, vielleicht eine Eule, auf dessen Flügeln das Mondlicht schimmerte, glitt über den Himmel.
    »Ich glaube dir«, erwiderte Ivy. »Sonst wäre es auch vollkommen sinnlos.«
    »Was?«
    »Deine Flucht jetzt«, sagte Ivy.
    »Früher oder später wäre ich sowieso rausgekommen«, sagte Harrow.
    Ivy lachte. »Achtzehn Jahre ist kaum früher oder später.«
    Harrow trat einen Schritt zurück, nahm einen Schluck, der Gin glitzerte im Mondlicht wie Quecksilber. Die Flasche war halb leer.
    »Ich hätte gern noch was«, sagte Ivy.
    Sie standen nebeneinander auf dem Vorsprung vor der Höhle, von kalter Schönheit umgeben, und teilten sich die Flasche.
    »Wir haben nichts zu essen«, sagte Ivy, »nicht mal Wasser.«
    »Der See ist voller Wasser«, sagte Harrow. »Ich kann jagen und fischen.«
    Was für eine Vorstellung: Für immer in diesem Meisterwerk zu leben, nur sie beide, heil und unversehrt. »Und in Wirklichkeit?«, sagte Ivy.
    Er gab dieses leise schnaubende Lachen von sich. »In Wirklichkeit«, sagte er, »können wir ein oder zwei Tage ohne Nahrung auskommen.«
    »Heißt das, danach verschwinden wir?«, fragte sie.
    »Müssen wir wohl.«
    »Um Betty Ann zu finden, oder?«
    Er blickte zum Mond empor. »Weißt du, was mir an diesem Planeten gefällt?«, fragte er.
    »Was?«
    »Wenn man darauf steht, sieht man Mond und Sonne in gleicher Größe. Was hat es damit auf sich?«
    »Muss es denn etwas auf sich haben?«, fragte Ivy.
    »Komische Frage für eine Schriftstellerin«, meinte Harrow. »Denk doch mal darüber nach, wie schlecht die Chancen stehen, dass es sich so verhält. Dahinter muss doch eine Botschaft für uns stecken.«
    »Wer ist ›uns‹?«
    »Alle, die jemals gelebt haben«, sagte Harrow. »Du und ich.«
    »Und wie lautet die Botschaft?«
    »Ich weiß es nicht genau«, antwortete Harrow. »Aber es hat was mit dem Tod zu tun.«
    Ivy trank noch einen Schluck. Im See blitzte etwas silbern auf, dreißig oder vierzig Meter vom Inselufer entfernt, der Klang hallte durch die windstille Luft. Sie schauderte.
    »Und wer schickt sie?«, fragte sie. »Willst du behaupten, es gäbe einen Gott?«
    »Auf keinen Fall.«
    Schweigend standen sie dort, berührten sich leicht. Die Unermesslichkeit des Weltraums, die Bedeutungslosigkeit der Menschheit, der Drang, jetzt zu leben: Die wahre Bedeutung dieser Konzepte traf sie tief, zum ersten Mal tief in ihrem Innersten, alle so offensichtlich jenseits jeglicher Diskussion. Eine beunruhigende und beängstigende Empfindung; aber die Berührung dieses Mannes schenkte ihr Trost.
    Harrow nahm die Flasche und trank. »Was ist mit dir?«, fragte er. »Glaubst du, es gibt einen Gott?«
    »Mein Herz sagt ja«, erwiderte Ivy. »Mein Verstand sagt nein.«
    »Eins von beidem muss stimmen«, sagte Harrow.
    In diesem Moment erinnerte sich Ivy an das Kreuz auf dem höchsten Fels der Insel. Sie blickte auf und sah es, aber es war fast unsichtbar. Aus irgendeinem Grund spiegelte es das Mondlicht nur wenig.
    Harrow leerte die Flasche. Er bemerkte ihren Blick und lächelte, seine Zähne klein und vollkommen, von der Farbe des Mondes; bis auf den goldenen Schneidezahn. »Diese Nacht ist frei«, sagte er und holte mit der leeren Flasche aus, in der Absicht, sie in den See zu schleudern.
    Ivy packte seinen Arm. »Wir brauchen sie noch«, mahnte sie. »Für Wasser.«
    »Immer vorausschauend«, sagte Harrow. Er stieß sanft mit dem Ellbogen gegen

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