Gerissen: Thriller (German Edition)
Schwachstellen eines Gefängnisses, das so alt ist wie dieses. Ein Wachmann hat ein Foto von der Leiche gemacht, wenn Sie es sich ansehen wollen.«
Ivy nickte. Er reichte ihr ein weiteres Foto, diesmal in Farbe: Felix, auf blutigen Kacheln liegend, sein Hals ein einziges Grauen. Ihr Blick floh rasch, heftete sich auf die Uhrzeit in der Ecke: 9:37:57.
»Und hier ist noch ein Überwachungsbild«, sagte Tocco.
Zwei Männer saßen an einer Art Cafeteria-Tisch, der am Boden verschraubt war, und spielten Karten. Den einen hatte Ivy noch nie gesehen. Der andere, dessen Karten in seiner riesigen Hand fast verschwanden, war Hector Luis Morales. Sie kontrollierte die rechte Ecke: 9:33:12, dasselbe Datum.
Ivy sah auf. Sergeant Toccos Blick erwartete sie. »Das ist die Cafeteria in Block A«, sagte er.
Cafeteria in Block A? Duschen in Block B? »Ich kapiere es nicht«, sagte Ivy.
»Das bedeutet, dass Morales Felix unmöglich getötet haben kann«, erläuterte Sergeant Tocco. »Er hätte von dort durch drei Schleusen gemusst, das dauert mindestens zehn Minuten. Und wir hätten eine Aufzeichnung von ihm auf dem Weg, was wir nicht haben.«
»Aber …« Aber das war unmöglich. Oh, Morales hat Felix erledigt, das ist schon richtig. Die einzige Frage ist, warum sie so lange gebraucht haben, um es herauszufinden.
»Aber was?«, fragte Sergeant Tocco.
Ivy machte sich klar, dass ihm ein Stück Information fehlte. Vielleicht war das auf dem Foto gar nicht Morales, sondern ein anderer Häftling, der ihm ähnelte; oder hatten die Latin Kings einen Weg gefunden, den Zeitcode zu manipulieren? Ihr ging auf, dass wie in so vielen Gruppierungen auch im Gefängnis zwei Wissensebenen existierten, die der Außenseiter und die der Eingeweihten. Die Insassen waren die Eingeweihten und wussten immer mehr darüber, was vor sich ging.
»Ich bin überrascht, das ist alles«, sagte Ivy.
»Hier drin gibt es eine Menge Überraschungen«, sagte Sergeant Tocco. »Was uns wieder zum Anfang führt. Bestehen Probleme zwischen Ihnen und den Latin Kings?«
»Ehe ich hierherkam, hatte ich noch nie von ihnen gehört«, sagte Ivy.
»Was ist mit Morales?«
»Mit ihm hatte ich auch nie Probleme.«
»Viele haben das«, sagte Sergeant Tocco.
»Ich nicht«, erwiderte Ivy. »Sein Gedicht hat mir gefallen.«
»Warum haben Sie ihn dann bei Balabans Anwalt angeschwärzt?«
»Oh«, sagte Ivy, die zu begreifen begann – so spät –, worauf das hier hinauslief. Die Antwort hing hauptsächlich damit zusammen, wie Harrow sich um Felix gekümmert hatte: Auf gewisse Weise hatte sie seine Arbeit fortgeführt. Aber das würde Sergeant Tocco nicht einleuchten. »Der Schmerz seiner Frau«, sagte Ivy. »Und die Kinder. Es war nicht richtig.«
»Stimmt«, sagte Sergeant Tocco. »Aber warum Morales?«
Ivy erinnerte sich an die erste Kursstunde. »Im Rückblick war es offensichtlich«, meinte sie. »Zwischen ihnen herrschte eine ungeheure Spannung.«
»Das ist im Knast allgemein die Regel«, sagte Sergeant Tocco.
»Es war mehr als das«, sagte Ivy. »Morales beschuldigte Felix, ihn einen Lügner genannt zu haben.«
»Weswegen?«
»Wegen seines Studienorts«, erklärte Ivy. »Tatsächlich war es Cornell, aber Morales bestand auf Harvard.«
»Und Felix gab nach.«
»Aber nicht sofort«, sagte Ivy. »Das war alles so dumm. Und obwohl Felix furchtbare Angst vor Morales hatte, drängte er ihn, sich mit dem Schreiben zu beeilen.«
»Drängte ihn, sich mit dem Schreiben zu beeilen?«
»Damit er den Stift bekam, den wir uns teilten«, erklärte Ivy. »Mir war nicht klar, wie gefährlich so etwas hier drin sein kann.«
»Da haben Sie recht«, sagte Sergeant Tocco.
»Morales warf ihm einen mörderischen Blick zu«, fuhr Ivy fort. »Und Felix schrumpfte zusammen. Sichtlich.«
»Sonst noch was?«, fragte Sergeant Tocco.
»Was denn noch?«
»Warum haben Sie Morales genannt?«
»Ich bin nicht sicher, was Sie damit andeuten wollen«, sagte Ivy.
»Nichts«, erwiderte Sergeant Tocco. »In neunundneunzig Prozent der Fälle hätten Sie recht behalten. Und vielleicht hätte Morales Felix am Ende die Kehle aufgeschlitzt. Aber jemand anders ist ihm zuvorgekommen.«
War es Ivys Aufgabe, mit ihm zu argumentieren? Nein. Abgesehen davon besaß sie keine Beweise, nur einen Augenblick geteilten Insiderwissens.
Sergeant Tocco blätterte eine Seite in dem Ordner um. »Somit bleibt uns noch die kleine Episode, wie Morales von einem Wörterbuch zusammengeschlagen wurde.« Mit
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