Gerissen: Thriller (German Edition)
sah nach dem Absender. Weiner, Landau und Pearl. Sie setzte sich auf die Stufen, riss den Umschlag auf. Darin befanden sich zwei Videobänder und ein Brief:
Sehr geehrte Miss Seidel,
ich habe mir die Freiheit genommen, Ihre Bänder gemeinsam mit einem alten, vertrauenswürdigen Kollegen aus dem Büro des Staatsanwalts anzusehen. Während mein Kollege das Vorhandensein eines geringfügigen Unterschieds in der Körperbewegung feststellen konnte, war er dennoch nicht bereit anzunehmen, dass dieser Unterschied sich der Gegenwart zweier verschiedener Männer verdankt, wie Sie vorgeschlagen haben. Da die Casino-Aufzeichnung vor Gericht bereits gezeigt wurde, würde die Möglichkeit, ein neues Verfahren zu eröffnen, einzig von diesem einen neuen Element abhängen, der Highschool-Aufzeichnung, die etliche Jahre zurückliegt. Seiner und meiner Meinung nach ist das zu dünn als Grundlage eines Unterfangens, welches selbst in Fällen, in denen die Ungerechtigkeit ganz eindeutig und schmerzlich ist, nur selten gelingt. Außerdem betrachtet der Staat den Überfall auf das Gold Dust als besonders brutal und würde mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln gegen ein neues Verfahren vorgehen. Angesichts des politischen Hintergrunds würden sich auch die Besitzer des Casinos einer Neuauflage heftig widersetzen, und problemlose Beziehungen zum Stamm sind für den Staat von allergrößtem Interesse. Deshalb lautet mein Rat an Sie, die Angelegenheit ruhen zu lassen. Nichts des oben Aufgeführten hindert Sie in irgendeiner Weise, Ihren auf dem Fall basierenden »Kriminalroman« zu schreiben, und ich wünsche Ihnen viel Glück bei diesem Unterfangen.
Ivy warf »Höhlenmann« in einen Briefkasten, ging zurück in ihr Apartment und legte sich aufs Bett. Sie schlief den ganzen Tag.
Die Aktenmappe in der Hand, lief Ivy durch das Verwaltungsgebäude zur Sicherheitsschleuse.
Sergeant Tocco beugte sich aus der Tür, als sie daran vorbeikam.
»Hätten Sie einen Moment?«, fragte er.
Sie ging in sein Büro. Er schloss die Tür und winkte sie zu einem Stuhl. Über ihnen summte eine Neonröhre.
»Alles glattgegangen?«, fragte er. Er stand am Fenster und beobachtete einen Häftling, der, einen Wachmann neben sich, langsam ein Blumenbeet harkte.
»Tatsächlich genieße ich die Fahrt«, sagte Ivy.
»Ich meinte nicht die Fahrt«, sagte Sergeant Tocco. »Sondern den Job.«
»Er gefällt mir gut«, sagte Ivy.
»Was denn besonders?«, fragte Sergeant Tocco.
»Einfach das Unterrichten an sich«, meinte Ivy. »Ich habe vorher noch nie unterrichtet.«
»Sie könnten überall unterrichten. Warum hier?«
»Das weiß ich wirklich nicht«, erwiderte Ivy. »Vielleicht hat es etwas damit zu tun, festzustellen, wie hartnäckig Kreativität sich durchsetzt, selbst unter den schlimmsten Bedingungen.« Während sie redete, erkannte sie die Wahrheit darin, war irgendwie stolz auf ihre Antwort.
Sergeant Tocco wandte sich vom Fenster ab. »Vor ein paar Jahren hatten wir einen Pädophilen hier«, erzählte er. »Hat fünf kleine Mädchen vergewaltigt und erwürgt. Er spielte erstaunlich gut Mundharmonika; soweit ich weiß, hat er ein paarmal mit Bruce Springsteen gespielt.«
Er setzte sich an den Tisch und schlug einen Ordner auf. Der Name auf der Vorderseite: Balaban. »Schon mal was mit den Latin Kings zu tun gehabt?«, fragte er.
»Ich?«, sagte Ivy. »Natürlich nicht.«
»Oder irgendwelche negativen Zusammenstöße mit Latinos im Allgemeinen?«
»Nein«, sagte Ivy. »Worum geht es eigentlich?«
»Die Kings waren hinter Felix her, das stimmt«, sagte Sergeant Tocco. »Wenn man hier drin arrogant auftritt, muss man Rückendeckung haben. Sie haben ihm harte Zeiten beschert.« Er blätterte in dem Ordner.
»Aber?«, fragte Ivy.
Sergeant Tocco ließ ein Foto über den Tisch gleiten.
»Was ist das?«, fragte Ivy.
»Die Überwachungskamera in den Duschen von Block B.«
Das Foto, körnig, schwarzweiß: Ein blasser Typ stand unter der Dusche, wusch sich die Haare, ein Auge geöffnet, eins geschlossen. Er war dürr, hatte aber trotzdem eine leichte Wampe, die über einen schutzlos wirkenden kleinen Penis hing. Felix.
»Achten Sie auf die Uhrzeit«, forderte Sergeant Tocco sie auf.
Weiße Zahlen in der oberen rechten Ecke verrieten Datum und Uhrzeit: 9:31:47.
»Felix wurde gegen neun Uhr fünfunddreißig gefunden«, sagte Sergeant Tocco, »als er direkt neben einer dieser Toiletten verblutete, die die Kamera nicht erfasst. Eine der
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