Germania: Roman (German Edition)
überlegte, wie die Angreifer vorgehen würden. Sie mussten den verlassenen Waldpfad nehmen, um auf das Grundstück zu gelangen. In das Lagerhaus führten zwei Türen, doch den hinteren Eingang hatte er bereits vor mehreren Jahren mit Ziegelsteinen verschlossen, damit die Huren nicht fliehen konnten. Dann gab es noch die Eisenluke zum Kohlenkeller, doch die war kaum zu finden, weil sie von Sträuchern überwuchert war und sich von außen allenfalls mit einem Schweißbrenner öffnen ließ. Damit war klar, welchen Weg ein Eindringling nehmen musste, um ihn zu überrumpeln: durch die vordere Eingangstür quer durch das Lager zum Arbeitsraum. Wo er die Frauen hinrichtete.
Er versuchte, sich in seine Verfolger hineinzuversetzen. Geduckt schlich er die Wand entlang, sprang durch die Türöffnung.
Nun stand er in seinem Arbeitsraum. Als der Holzboden unter seinem Gewicht knarrte, blickte er nach unten. Das Lagerhaus bestand zwar nach außen hin aus starken Ziegelmauern, doch sein Inneres war eine baufällige Konstruktion. Nur ein paar morsche Holzbalken sorgten dafür, dass er nicht durch den Fußboden brach und in den Keller fiel.
Da kam ihm endlich der Einfall, auf den er gewartet hatte. Nein, sie konnten ihm nichts anhaben. Nun wusste er, wie er ihnen entkommen konnte. Nachdem er dies geklärt hatte, spürte er, dass er bereit war. Für die nächste Tat.
»Das Rennen ist so gut wie gelaufen. Es gibt jetzt einen Favoriten, doch das Pferd wurde kurz vor der Ziellinie ausgewechselt. Ich schätze, wir können unseren alten Klepper jetzt aus Hoppegarten abholen.«
Hilde verstand Oppenheimers Umschreibung der Lage. »Der Abdecker ist schon verständigt. Allerdings werden wir mindestens drei Stunden brauchen, um nach Hoppegarten zu kommen. Ist ziemlich weit bis zur Trabrennbahn.«
In Oppenheimers Stimme schwang Enttäuschung mit. »Wie gesagt, wir können sonst nichts mehr tun. Bis später.«
Er legte den Telefonhörer auf die Gabel und blickte den Apparat noch eine Weile an. Er musste jetzt an andere Dinge denken. Nun gut, Vogler hatte ihm den Fall abgenommen, und das Ende war leider enttäuschend, daran ließ sich nichts mehr ändern. Jetzt, wo Oppenheimer nicht mehr gebraucht wurde, befand er sich in einer äußerst gefährlichen Lage. Er durfte nicht zurückblicken. Das nächste Ziel musste sein, aus Deutschland herauszukommen, irgendwo Zuflucht zu suchen. Er hatte noch drei Stunden. Diese Zeitspanne erschien Oppenheimer plötzlich unendlich lang. Schließlich konnte noch vieles schieflaufen.
Er trat aus dem Postamt und wusste zuerst nicht, wohin. Vor ihm lag der Potsdamer Platz, unzählige Menschen liefen zum Bahnhof, was kaum verwunderlich war, da die Ersten für gewöhnlich um diese Zeit bereits Feierabend machten. Ein von Pferden gezogener Karren bog von der Leipziger Straße in die Hermann-Göring-Straße ein und drängte dabei fast einen Radfahrer ab, der aufgeregt klingelte. Das Leben in der Stadt ging seinen gewohnten Gang, doch Oppenheimer fühlte sich von all dem abgeschnitten. Verloren stand er inmitten des Feierabendtrubels, plötzlich ein Fremder in der pulsierenden Metropole.
Hoffmann war weit und breit nicht zu sehen, er musste jetzt wohl wichtigere Personen durch Berlin kutschieren. Oppenheimer beschloss, mit der U-Bahn AII zur Station Krumme Lanke zu fahren. Er schätzte, dass es von dort aus näher zur Kameradschaftssiedlung war als von der S-Bahn-Station West-Zehlendorf. Allerdings war hier am Potsdamer Platz beim großen Angriff am Mittwoch die Decke der U-Bahn-Station durchschlagen worden. Oppenheimer sah Absperrungen. Es wurde wohl immer noch gearbeitet. Er hoffte, dass die Verkehrsbetriebe wenigstens einen Ersatzverkehr eingerichtet hatten.
Er wollte gerade die Saarlandstraße überqueren, als jemand seinen Namen rief. »Herr Oppenheimer! Warten Sie!«
Er wandte sich um, sah jedoch niemanden, der ihm bekannt vorkam. Eine Gestalt humpelte durch die Menge, winkte mit dem Hut, der Kopf war fast kahl. Güttler. Oppenheimer erinnerte sich. Er hatte dem Mann einen Auftrag gegeben, nachdem sie die Leiche von der Hure namens Friederike gefunden hatten, die eigentlich Verena Opitz hieß, bevor sie von der Waffen-SS den Decknamen Edith Zöllner verpasst bekam. Das Fräulein Becker hatte damals den Mörder gesehen, als er vom Friedhof in Steglitz weggeschlichen war. Doch ihre beiden Täterbeschreibungen widersprachen sich.
»Da sind Sie ja!«, rief Güttler vergnügt. »Ich wollte schon zu
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