Germania: Roman (German Edition)
die in der fraglichen Nacht den Friedhof verließ. Dummerweise haben Sie zwei unterschiedliche Beschreibungen geliefert.«
»Das war ein Versehen. Erst als ich später noch mal über die Sache nachgedacht habe, erinnerte ich mich wieder genau an alles.«
Oppenheimer spitzte die Ohren. Im Nebenzimmer hatte jemand gehustet, gedämpft zwar, doch deutlich vernehmbar.
»Die Nachbarn«, beeilte sich Frau Becker zu erklären.
»Sind wohl ziemlich dünne Wände hier?«
»Ja, ich kriege so gut wie alles von nebenan mit.«
Oppenheimer schaute ihr ins Gesicht. Dann erhob er sich und ging kommentarlos in das Nebenzimmer, aus dem das verräterische Geräusch gedrungen war. Ein Schlafzimmer. Die hinterste Wand wurde von einem großen Kleiderschrank dominiert.
»Ich habe Ihnen doch gesagt, es sind die Nachbarn«, protestierte Frau Becker.
»Ist das Ihr Schrank, oder war das Zimmer bereits möbliert?«
»Der stand schon hier. Genau wie die anderen Sachen.«
Oppenheimer ging vor dem Schrank auf und ab und musterte dessen große Türen. Dann befahl er dem Möbelstück mit lauter Stimme: »Sie können jetzt herauskommen! Das Spiel ist aus! Haben Sie gehört?«
Stille.
Ganz zaghaft begann sich schließlich eine der Schranktüren zu öffnen. Zwei angsterfüllte Augen starrten Oppenheimer entgegen.
»Ich warte.«
Ein Rascheln. Ertappt tastete sich ein Mann zwischen den Kleidern nach draußen. Er war vielleicht Anfang zwanzig, auf jeden Fall im wehrfähigen Alter. Oppenheimer verstand jetzt Frau Beckers merkwürdiges Verhalten.
»Welche Kompanie?«
»Achte Armee«, antwortete der junge Mann eingeschüchtert.
Natürlich. Ein Deserteur. Wie so viele andere auch, die sich aus dem Urlaub nicht mehr zur Front zurückmeldeten und lieber das Risiko eingingen, standrechtlich erschossen zu werden, wenn sie gefasst wurden. Als er sah, wie Frau Becker beschützend ihre Arme um den zitternden Mann schlang, begriff er, was geschehen war. Wenn man ihren Angaben Glauben schenken durfte, war ihr Mann ums Leben gekommen, und sie hatte sich neu verliebt. Das Dumme war nur, dass ihr Liebhaber desertiert war. Niemand durfte von seiner Existenz erfahren. Zweifellos hatte sie einen Narren an dem Jüngling gefressen, sonst hätte sie nicht das Risiko auf sich genommen, ihn in ihrer Wohnung zu verstecken. Sein Leben hing davon ab, dass sie sich richtig verhielt. Deswegen die Täuschungsmanöver, nachdem die Polizei auf sie aufmerksam geworden war. Doch nun war das Kartenhaus, das die beiden errichtet hatten, in sich zusammengefallen.
»Ich hab dir doch gesagt, dass es keinen Sinn hat, Friede«, sagte er resignierend zu Frau Becker. Sie begann, leise zu schluchzen.
»Ich bin nicht an Ihnen interessiert«, sagte Oppenheimer so ruhig wie möglich. »Es kommt mir nur auf die Zeugenaussage an. Wenn ich gegangen bin, werden Sie mich niemals wiedersehen. Niemand wird von mir irgendetwas erfahren. Ich gebe Ihnen darauf mein Ehrenwort. Aber ich bitte Sie darum, mir jetzt aufrichtig zu berichten, was Sie damals am Friedhof gesehen haben.«
Frau Becker wandte sich überrascht Oppenheimer zu. Auch im Blick des jungen Mannes lag wieder Hoffnung.
»Wie soll ich Sie nennen? Nur der Vorname, damit es mir leichterfällt, mich mit Ihnen zu unterhalten.«
»Ernst«, sagte der Jüngling.
»Also, Ernst, waren Sie anwesend, als Frau Becker die Beobachtung am Steglitzer Friedhof machte?«
»Wir kannten uns erst seit ein paar Tagen«, sprudelte es plötzlich aus Frau Becker hervor. »Bei einem Luftangriff haben wir uns zum ersten Mal gesehen. Wir waren im selben Bunker, und, nun ja, wir haben uns gleich angefreundet.«
»Ich habe sie in dieser Nacht nach Hause begleitet«, ergänzte Ernst.
»Schön, mehr will ich gar nicht wissen. Sie liefen also zusammen an der Friedhofsmauer entlang. Nun zu der wichtigen Frage: Wer von Ihnen beiden hat was genau beobachtet? Fangen wir bei Ihnen an, Ernst.«
Der Mann namens Ernst schluckte und überlegte angestrengt. »Es war so: Ich sah, wie sich jemand am Tor zu schaffen machte.«
»Ein Mann?«
»Ich würde sagen, ja. Er bewegte sich wie ein Mann. Was er getragen hat, ließ sich kaum erkennen.«
»Haarfarbe?«
»Ich würde sagen, braun oder schwarz. Auf jeden Fall nichts Helles. Er könnte aber auch eine Mütze getragen haben.«
»Was taten Sie, nachdem Sie den Mann gesehen hatten?«
»Es kam mir recht komisch vor. Der Mann schob einen Bollerwagen vor sich her. Aber in der Nacht hat doch niemand etwas auf dem Friedhof
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