Germania: Roman (German Edition)
zu suchen. Ich machte dann Friede, ich meine natürlich Frau Becker, darauf aufmerksam.«
»Danach haben Sie nichts mehr gesehen? Ist der Mann dann verschwunden? In Luft kann er sich ja nicht aufgelöst haben.«
Verlegen blickte Ernst nach unten. »Nun, ich hab mich sofort nach einem Platz umgeschaut, wo ich mich im Zweifelsfall hätte verstecken können. Ich wusste ja nicht, wer das war. Sie verstehen, in meiner Lage muss ich vorsichtig sein.«
Im Großen und Ganzen deckte sich seine Beschreibung mit der ersten Zeugenaussage von Frau Becker. »Nun zu Ihnen, Frau Becker. Ihr Ernst hat Sie auf den Mann beim Friedhofstor aufmerksam gemacht. Was haben Sie daraufhin gesehen?«
»Als ich hinschaute, kam gerade der Mond hinter einer Wolke hervor. Sonst sieht man wegen der Verdunklung ja kaum was. Es wurde hell, nur ganz kurz, und das Erste, was ich sah, war ein Kopf mit weißblonden Haaren.«
»Platinblond, wie Sie ihn beschrieben haben.«
»Ja, es klingt verrückt, weil es ja ein Mann war. Ich kenne sonst keinen Mann, der sich die Haare färben lässt. Auf jeden Fall lief er ganz schnell über die Straße und war dann in der Dunkelheit verschwunden.«
»Und der Handkarren?«
»Ich habe etwas gehört, konnte aber nicht erkennen, was es war.«
»Wer von Ihnen beiden hat bemerkt, dass das Tor aufgebrochen war?«
»Ich habe es gesehen«, sagte Frau Becker. »Da war jemand eingebrochen. Ich wollte sofort deswegen zur Polizei, doch das war zu gefährlich. Aber ich musste es jemandem melden, ich konnte mich nicht einfach so davonschleichen. Im Nachhinein war das nicht gerade klug von mir.« Sie verzog ihren Mund zu einem bitteren Lächeln. »Ernst meint, es sei das preußische Blut in mir. Jedenfalls habe ich dann dem Friedhofswärter Bescheid gesagt, das schien mir der beste Kompromiss zu sein.«
»Aber der hat Sie direkt zur Polizei weitergeschickt.«
Frau Becker kommentierte dies mit einem Schulterzucken.
»Und auf der Polizeiwache fürchteten Sie sich vor weiteren Scherereien wegen Ernst und haben eine falsche Adresse angegeben?«, fragte Oppenheimer.
»Die war ja an sich nicht falsch. Nur eben nicht mehr aktuell. Es war eine Kurzschlussreaktion. Es wäre vielleicht einfacher gewesen, einen anderen Namen anzugeben. Aber dann hätte ich lügen müssen. Die Sache mit Ernst und alles andere – ich konnte nicht mehr klar denken.«
»Warum sind Sie dann nicht bei der ersten Version Ihrer Zeugenaussage geblieben?«
»Ich hatte zuerst einfach nacherzählt, was Ernst mir berichtet hatte. Er war ja der festen Überzeugung, dass der Mann so ausgesehen hatte.«
»Doch dann kamen Ihnen Zweifel, und als ich Sie befragte, beschrieben Sie die Szene, wie Sie sie selbst gesehen hatten«, schloss Oppenheimer.
Frau Becker saß zerknirscht vor ihm auf der Bettkante. »Ich bin eine dumme Gans. Aber ich konnte nicht lügen. Ich habe den Mann selbst gesehen. Aber für mich sah er einfach anders aus.«
Oppenheimer überlegte. Ihre Schilderung kam ihm glaubwürdig vor. Es gab eine ganz einfache Lösung für die Diskrepanz der beiden Aussagen. »Wäre es vielleicht möglich, dass Sie beide zwei verschiedene Männer gesehen haben?«
»Das habe ich mich auch schon gefragt«, sagte Ernst. »Es lässt sich zumindest nicht hundertprozentig ausschließen.«
»Besten Dank«, sagte Oppenheimer schließlich. »Ich denke, damit haben Sie meine Fragen beantwortet.«
Er ging zur Haustür und wandte sich dort noch einmal um. Frau Becker und Ernst blickten ihn unsicher an.
»Also von mir aus war es das«, sagte Oppenheimer, die Türklinke in der Hand. »Passt gut auf euch auf, ihr beiden.«
Als er die Tür hinter sich schloss, befanden sich die beiden Liebenden schon wieder in einer Umarmung. Frau Becker presste Ernst fest an sich, der sein Bestes tat, sie zu beruhigen.
»Friede, es war doch halb so schlimm«, sagte er und strich ihr dabei sanft übers Haar.
Friede. Ernst hatte seiner Geliebten einen hübschen Kosenamen gegeben. Und irgendwie passte er auch gut zur Situation des Deserteurs.
Während sich Oppenheimer zur U-Bahn begab, ging er in Gedanken nochmals die Informationen durch, die ihm Frau Becker und ihr Schützling gegeben hatten.
Unweigerlich erinnerte er sich dabei an seine erfolglose Vernehmung von Karl Ziegler. Er war davon ausgegangen, dass sich der doofe Kalle aus der Affäre ziehen wollte und deswegen einen imaginären Partner erfunden hatte, dem er die ganze Schuld zuschieben konnte. Oppenheimer musste sich
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