Germania: Roman (German Edition)
Nachhauseweg?«
Durch Oppenheimers Kopf rasten die Gedanken. Er stand hier in seinem Mantel. Also konnte er schlecht nein sagen. »Ja, ich muss langsam, damit ich wenigstens ein paar Stunden Schlaf kriege«, log er.
Holm reckte sich und griff an seine Schulter. »Ich glaube, ich werde langsam alt. Heute hatte ich einen widerspenstigen Kunden. Bin nicht mehr in Übung. Früher hat mir das nichts ausgemacht. Konnte stundenlang Leute verhören.«
Oppenheimers Begleiterin blieb verschwunden. Zusammen mit Holm bog er nach rechts ab. Sie hielten direkt auf das große Eingangsportal zu und näherten sich der Tür. Oppenheimer konnte einen Uniformierten sehen, der den Ausgang, das Gewehr geschultert, bewachte. Ihm war schmerzhaft bewusst, dass er sich nicht einfach ohne Entschuldigung von Holm trennen konnte. Er hatte angegeben, nach Hause zu wollen, also würde sein Begleiter davon ausgehen, dass er mit ihm kam. Selbst ein leichtes Zögern würde sofort auffallen. Doch es war riskant, durch den Haupteingang zu schreiten, nein, es war absolut wahnsinnig, dies zu tun, wenn man kurz zuvor erst klammheimlich ins Gebäude eingestiegen war. Andererseits befand sich Oppenheimer jetzt in Begleitung. Er war mit jemandem zusammen, der sich anscheinend häufig in diesem Gebäude aufhielt, den man nicht verdächtigen würde, vor den Augen des Wächters einen Eindringling hinauszuschmuggeln.
Mechanisch ging Oppenheimer weiter. Er hatte keine Wahl, er musste alles auf eine Karte setzen. Entweder es gelang ihm, auf diese Weise zu entrinnen, oder gar nicht.
Er hörte eine Stimme. Jemand sagte an seiner Seite etwas. Es musste Holm gewesen sein. Oppenheimer hatte es nicht verstanden, weil er sich auf den Wachmann konzentriert hatte. »Bitte?«
»Ihre Frau – ist sie auch auf dem Land?«
»Nein, sie ist hier. In der Nähe.«
»Ah, verstehe. Ich finde es gelegentlich gar nicht schlecht, Margarete vom Hals zu haben. Aber auf Dauer ist das nichts. Und die Kinder. Man macht sich schon Sorgen, wenn sie weg sind.«
»Kann ich verstehen. So ist das nun mal mit Kindern.«
Der Wachmann musterte sie kurz. Dann blickte er wieder an ihnen vorbei.
»Wiedersehen«, rief Holm dem Wächter zum Abschied zu.
Als die schwere Tür hinter ihnen zuging, atmete Oppenheimer auf. An Holms Seite lief er durch den Garten und trat schließlich durch die Hofeinfahrt auf die Straße. Er hatte es geschafft, war entkommen. Oppenheimer hätte es nicht für möglich gehalten, dass dies so einfach sein konnte. An der nächsten Ecke konnte er bereits Lüttkes Auto erkennen.
»Willst du noch in die Kneipe mitkommen?«, fragte Holm.
»Ein andermal. Meine Frau wartet.«
»Dann bis demnächst.«
»Bis bald«, erwiderte Oppenheimer erleichtert. Eilig wandte er sich ab. Zu eilig, denn plötzlich rutschten die beiden Hefter unter seinem Mantel hervor und landeten direkt vor Holms Füßen auf dem Gehweg.
Oppenheimer fühlte, wie sein Herz stehenblieb. Er hatte sich verraten. Bauer und Lüttke waren zu weit entfernt, um ihm helfen zu können. Außerdem rechneten sie nicht damit, dass Oppenheimer aus der Hofeinfahrt kommen würde.
»Hoppla!«, sagte Holm und bückte sich ächzend. Er hob die Hefter auf und beäugte sie neugierig. »Was haben wir denn da?« In der Dunkelheit ließ sich die Beschriftung kaum erkennen. Holm musterte Oppenheimer aufmerksam. »Sind das Ihre?«
»Ich, ich hatte sie mitgenommen«, stotterte Oppenheimer.
Holm blickte zweifelnd auf die Hefter. Er schien zu überlegen, was er davon halten sollte. Dann zeigte sich auf seinem Gesicht allmählich ein Grinsen, als er zu verstehen glaubte. »Hausaufgaben, was? Alle Achtung, fleißig.«
Er reichte Oppenheimer die Unterlagen. Dieser versuchte, nicht allzu hektisch zu wirken, als er sie zurücknahm. »Vielen Dank. Tja, die Arbeit, die Arbeit.«
Holm schmunzelte. »Nur weiter so, Herr Kollege. Heil Hitler!« Damit verabschiedete er sich, machte auf dem Absatz kehrt und verschwand nach wenigen Augenblicken in der Dunkelheit.
Das Licht des Feuerzeugs musste ausreichen. Obwohl sie sich nun außerhalb der Stadt befanden, wagte Oppenheimer wegen der Verdunklungspflicht nicht, die Taschenlampe anzuknipsen.
Bauer und Lüttke waren nicht gerade erfreut darüber gewesen, dass er die beiden Dossiers entwendet hatte, doch Oppenheimer hatte sich damit herausgeredet, dass er sie nicht mehr unauffällig hätte loswerden können, nachdem er diesem Mann namens Holm in die Arme gelaufen war. So hatten Hilde und
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