Germania: Roman (German Edition)
Verbindung zu seinen Kriegserlebnissen gesehen. Vielleicht ist er an der Front zum ersten Mal in einem Bordell gewesen, möglicherweise fällt in diese Zeit sogar sein erster sexueller Kontakt. Das wäre nicht ungewöhnlich. Er ist jung, lebt unter Soldaten, fühlt sich erwachsen und lässt die Sau raus.«
Oppenheimer runzelte die Stirn. »Das sind aber jetzt reichlich viele Wenn und Aber. «
»Es spielt keine Rolle, ob es der Wahrheit entspricht. Es ist nur wichtig, ob Lutzow es glaubt. Er muss einen Zusammenhang konstruiert haben, und diese Erfahrung prägt all seine späteren Handlungen. Und das Verrückte bei der ganzen Sache ist, dass uns das alles vielleicht hätte erspart bleiben können.«
»Du meinst Hitlers Amnestie? Billhardt hatte das erwähnt. Es müsste weiter hinten stehen.« Oppenheimer begann zu blättern, doch Hilde unterbrach ihn.
»Nicht Hitler. Ich meine die Ärzte, an die Lutzow damals geraten ist. Sie haben ihn hundertprozentig falsch behandelt. Kennst du die Symptome von Syphilis, die nicht richtig auskuriert wurde?« Hilde wartete nicht auf Oppenheimers Antwort. »Es kann vorkommen, dass allmählich Nervengewebe im Rückenmark oder Gehirn abgebaut wird. Persönlichkeitsstörungen, Halluzinationen, Größenwahn, die ganze Palette. Das alles sind genau die Symptome, die sich aus den Briefen unseres Mörders ablesen lassen. Lutzow war noch nicht geistesgestört, als er in Behandlung kam. Das geschah nur, weil die Herren Doktoren Mist gebaut haben, diese verdammten Stümper.«
Nach dieser Feststellung seufzte Hilde unzufrieden auf und blickte verdrossen nach draußen, wo das Mondlicht auf flache Felder schien. Lüttke hatte sich dazu entschlossen, die Stadt südlich zu umfahren. Es war der kürzeste Weg zum Versteck des Mörders. Doch Oppenheimer konnte kaum einschätzen, wo sie sich gerade befanden.
»Lutzow mag sich zu einem Schweinehund entwickelt haben«, murmelte Hilde, »aber er ist auch ein ziemlich interessanter Fall. Hätte ich diese Akten nur schon vorher in die Finger gekriegt. Was ist mit dem Kerl nach dem Krieg geschehen?«
Oppenheimer blickte kurz in die Papiere. »Ähm, also in den ersten Jahren verlieren sich seine Spuren. Das ärztliche Gutachten, das du hast, ist das einzige Dokument aus dieser Zeit. Der Rest klingt wie die übliche Parteikarriere. Anhand der Gerichtsakten lässt sich ziemlich genau rekonstruieren, was er damals so trieb. Er war Kriegsveteran, doch es gelingt ihm nicht, Fuß zu fassen. Ich schätze mal, dass er sich wie so viele Kriegsheimkehrer von der Gesellschaft nicht akzeptiert fühlte. Jedenfalls hielt er sich als Hilfsarbeiter über Wasser, nahm jede Stellung an, die er nur kriegen konnte. Er hat sogar mal in einer Fleischerei gearbeitet, was zu den präzisen Schnitten bei den Opfern passen würde. Doch nirgends ist er lange geblieben. Dann folgte Mitte der Zwanziger der Eintritt in die SA.«
Hilde schnaubte. »Natürlich. Das ideale Auffangbecken für die chronisch Zukurzgekommenen. Also hat Lutzow mit der braunen Bande die Straßen unsicher gemacht. Wundert mich nicht.«
»Nun ja, hier wird das als politische Aktivitäten umschrieben. Aber jetzt wird es interessant. Lutzow wohnte damals in Charlottenburg. Die SA-Leute hatten dort einen Treffpunkt, das Restaurant zur Altstadt in der Hebbelstraße. Nachdem sie sich dort breitgemacht hatten, ernannten sie das Restaurant bald offiziell zu ihrem Sturmlokal. Die Wirtsleute haben das wohl toleriert, obwohl ihre Stammgäste bis dahin eher kommunistisch angehaucht waren. Offenbar gab es dort auch eine Art Verlies für politische Gefangene.«
Während Oppenheimers Schilderung hatten sich Hildes Gesichtszüge verhärtet. »Du brauchst es mir nicht erklären.«
Als sie Oppenheimers fragenden Blick spürte, fügte sie hinzu: »Damals hatte ich einen Patienten. Er hatte das Pech gehabt, in so ein Sturmlokal verschleppt zu werden. Sie haben ihn mit brennenden Fackeln geschlagen, und als er Durst hatte, haben sie ihm Holzschutzmittel zu trinken gegeben. Man kann es sich kaum vorstellen. Als sie ihn schließlich laufenließen, konnte ich ihn nur noch ins Krankenhaus überweisen. Er lag dort in einer Wanne mit Borwasser und hat sich noch fast eine Woche herumgequält, ehe er starb. Wenn man bedenkt, dass es hier bestimmt Dutzende solcher Verliese gab, dann fragt man sich, wie viele Lutzows sonst noch in Berlin herumlaufen.«
Oppenheimer starrte trübsinnig vor sich hin. Nach einem Räuspern sagte er: »Nun
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