Germania: Roman (German Edition)
haben. Als Motiv gab er an, dass er sehen wollte, wie ein menschlicher Organismus funktioniert. Er war einfach neugierig. Und in seiner, Zitat: angeborenen Ignoranz, was Gut und Böse betraf, machte er das für ihn Nächstliegende – er schnitt die Körper auseinander, genau so, wie er an einem Ottomotor herumgeschraubt hätte, um dessen Einzelteile zu begutachten. Nur stand es nicht in seiner Macht, die zerstückelten Frauen wieder zusammenzubauen, weswegen er die Leichen einfach des Nachts entsorgte.
Unruhig flog Oppenheimers Blick über die Seiten, Wort für Wort, Zeile für Zeile. Das Geständnis ging nicht auf die Fundorte ein. Die Gedenksteine für die Gefallenen des letzten Krieges wurden mit keiner Silbe erwähnt. Natürlich, eine Verbindung Zieglers zum Ersten Weltkrieg ließ sich beim besten Willen nicht herstellen. Es passte einfach nicht ins Konzept eines Einzeltäters.
So schnell es nur ging, las Oppenheimer weiter. Als verbindendes Glied der Morde wurde Zieglers Arbeit bei Höcker & Söhne angegeben. So weit war alles richtig. Dass die getöteten Frauen mit der Partei in Zusammenhang standen, wurde jedoch nicht erwähnt. Ebenso wenig wie das Versteck, in dem die Verstümmelungen stattgefunden hatten. Enttäuscht blätterte Oppenheimer zur letzten Seite. Er sah, dass das Geständnis nicht unterzeichnet war. Die gepunktete Linie für Zieglers Unterschrift war leer. Dann fiel sein Blick auf den letzten Satz.
Der Beschuldigte ist während der Untersuchung gestorben, stand dort lapidar. Man hatte also kurzen Prozess mit Ziegler gemacht und ihn umgebracht.
Oppenheimer schüttelte den Kopf. »Die haben wirklich ganze Arbeit geleistet«, murmelte er vor sich hin. Er wusste, dass sie Ziegler sowieso gehenkt hätten. Was in dieser Situation jedoch umso schwerer wog, war die Tatsache, dass man ihn jetzt nicht mehr vernehmen konnte. Ziegler konnte nicht mehr verraten, wo das Versteck war.
Enttäuscht legte Oppenheimer das Protokoll beiseite. Sekundenlang saß er regungslos da und starrte vor sich hin. Er wusste, was das bedeutete. Der Mörder würde auch weiterhin sein grausames Spiel treiben, Frauen verletzen, quälen und töten, wenn er ihrer überdrüssig wurde.
»Sind Sie fertig?« Oppenheimer zuckte zusammen. Die Frau trat unruhig von einem Bein auf das andere.
»Moment noch«, murmelte er geistesabwesend und konzentrierte sich auf die anderen Unterlagen. Es waren zwei Hefter. Auf dem ersten stand Karl Zieglers Name. Schnell blätterte er die Seiten durch. Es stand nicht viel darin. Seine bisherigen Wohnadressen, die Musterungsbescheinigung, eine beglaubigte Abschrift seiner Geburtsurkunde. Als Oppenheimer auf den zweiten Hefter blickte, erstarrte er. Johannes Lutzow stand groß darauf. Oppenheimer erinnerte sich: Der SA-Mann, das Dossier, das Lüttke und Bauer nicht hatten ausfindig machen können – es lag direkt vor ihm.
Das konnte kein Zufall sein.
Ein Funken Hoffnung keimte in Oppenheimer. War Billhardts Hinweis doch richtig gewesen? War Lutzow das eigentliche Gehirn hinter diesen Verbrechen?
Hektisch blätterte er durch die Akte. Polizeiprotokolle, Photographien der Frau des Gewerkschafters, die er damals angegriffen hatte, Arztberichte. War Zieglers Akte ausgesprochen dünn, so war diese hier sehr umfangreich. Oppenheimer blätterte weiter und weiter, sichtete jedes Dokument, bis er plötzlich innehielt. Jemand hatte den Ausschnitt eines Pharus-Plans in die Akte geheftet. Er erkannte die Umrisse des Müggelsees und gleich daneben ein Tintenkreuz.
Die Markierung befand sich direkt unterhalb der Bismarckwarte. Daneben gab es noch weitere Flecken. Sie waren bräunlich, wahrscheinlich getrocknetes Blut. Und am Rand des Blattes stand eine Signatur, die Unterschrift von Karl Ziegler, die auf dem Vernehmungsprotokoll fehlte. Vor Aufregung schoss Oppenheimer das Blut in den Kopf. Kalle hatte den Ermittlern vor seinem Tod tatsächlich das Versteck verraten.
»Wir müssen los«, sagte Oppenheimer und nahm die beiden Akten an sich.
Seine Begleiterin blickte ihn verwirrt an und zeigte auf die Hefter. »Die können Sie aber nicht mitnehmen.«
»Sonderbefehl«, log Oppenheimer. »Gehen wir.«
Bevor er auf den Gang trat, versteckte er die Hefter unter seinem Mantel. So würde er kein Aufsehen erregen. Oppenheimer hatte gerade zwei Schritte auf dem Korridor gemacht, als es um ihn herum gleißend hell wurde.
Jemand hatte die Deckenlampen eingeschaltet.
Schnell wandte er sich um, um wieder ins Büro
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