Germania: Roman (German Edition)
deutschen Staat und dem Parteiapparat der Nationalsozialisten zusehends verwischt. Die Organisationen der NSDAP bekamen immer mehr Kompetenzen zugesprochen, und so war es nur eine Frage der Zeit, bis SD, Gestapo und Kripo in dem neu gegründeten Reichssicherheitshauptamt zusammengeführt wurden. Mittlerweile hatten normale Kriminalbeamte nichts mehr zu sagen und waren nur noch Lakaien, die lediglich bei geringfügigen Ordnungswidrigkeiten selbständig aktiv werden durften. Schwere Delikte mussten von Parteimitgliedern bearbeitet werden. Warum ein Fall dann entweder beim SD oder bei der Gestapo landete, das war aufgrund des allgemeinen Kompetenzgerangels der einzelnen Parteiorganisationen schwer nachvollziehbar.
Oppenheimer war derart in Gedanken versunken, dass ihm nicht mal die geisterhafte Stille auffiel, die sich bleiern über seine Umgebung gelegt hatte. An diesem Morgen hatte er eine entscheidende Verwandlung durchgemacht: Seit langem verspürte er wieder ein Gefühl der Souveränität. Für eine kurze Zeit war er wieder der Kommissar Oppenheimer gewesen und nicht der Beamte, den man wegen seiner jüdischen Abstammung aus dem Staatsdienst entlassen hatte. Mit einem Mal war er nicht mehr Opfer von Hitlers Willkür, sondern wieder ein Jäger. Und so schlich er nicht wie sonst mit eingezogenem Kopf und nach unten gerichtetem Blick durch die Straßen, sondern betrat das Judenhaus, als sei es die selbstverständlichste Sache der Welt, dass er hier wohnte.
Da ohnehin Fliegeralarm war, stieg Oppenheimer die Treppe hinab. Der Keller war von den Bewohnern mehr schlecht als recht zum Bunker ausgebaut worden. Sie hatten auch keine andere Wahl, denn in die großen Hochbunker mit ihren meterdicken Betonmauern ließ man Juden nicht hinein. Wegen der mannshohen Holzbalken, die man im Kellergeschoss nachträglich verkeilt hatte, dachte Oppenheimer, dass es dort unten wie in einem Bergwerksstollen aussah. Trotz aller Sicherheitsmaßnahmen hätte die armselige Holzdecke einer Bombe im Ernstfall kaum Widerstand bieten können. Streng genommen wäre es eigentlich sinnvoller gewesen, direkt im Freien Schutz zu suchen, denn dort war die Gefahr geringer, lebendig unter Schutthaufen begraben zu werden. Als potenzielle Staatsfeinde hatte man den Bewohnern des Judenhauses auch keine Gasmasken zugeteilt, Rundfunkgeräte durften sie ebenfalls nicht besitzen, nicht mal ein Drahtfunkempfänger im Keller war gestattet, um verfolgen zu können, was draußen vor sich ging.
Als Oppenheimer den Kellerbunker betrat, saßen die anderen Bewohner des Judenhauses schon beieinander: das Ehepaar Bergmann, die Schlesingers und Dr. Klein, der wie üblich die Hausapotheke bewachte und für den Notfall seinen Arztkoffer in Reichweite hatte. Der alte Schlesinger blinzelte Oppenheimer unter seinem Stahlhelm entgegen, ein Andenken an den Ersten Weltkrieg.
»Ist Ihre Frau heute in der Fabrik?«, fragte der Alte. »Sie ist noch nicht aufgetaucht.«
Oppenheimer war verblüfft. »Das wäre mir neu. Sie hat nichts davon erwähnt.«
»Ich habe Ihnen doch gesagt, dass Sie nachsehen sollen, Schlesinger«, grummelte Dr. Klein in seiner Ecke. Schwerfällig stützte er sich auf, um seinen zentnerschweren Leib hochzuhieven.
»Lassen Sie es gut sein, Doktor«, sagte Oppenheimer. »Ich kümmere mich schon darum.«
Oppenheimer war die letzte Treppe zu seiner Wohnung halb hinaufgestiegen, als er erstarrte. Gas!
Irgendetwas war dort oben nicht in Ordnung. Oppenheimer rannte die letzten Stufen hoch und riss die Tür zur Küche auf.
Der Gasgestank schlug ihm entgegen. Benommen trat er einen Schritt zurück. Unerklärlicherweise war das Küchenfenster geschlossen. Lisa hatte sonst immer darauf geachtet, es bei einem Luftangriff sperrangelweit zu öffnen, damit das Glas nicht durch die Druckwelle einer Detonation zerschellte.
Oppenheimer holte tief Luft und hechtete dann quer durch den Raum. Seine Bemühungen, das Fenster zu öffnen, blieben erfolglos. Er war zu aufgeregt. Kurzerhand ergriff er den am Boden stehenden Sandeimer und zerschlug damit die Scheiben.
Vor der Öffnung japste Oppenheimer nach Luft. Gerade hatte er seine Lungen wieder mit Sauerstoff gefüllt, als er sah, dass am Herd einer der Gasbrenner eingeschaltet war. Der Wasserkessel stand auf der Platte, doch jemand musste vergessen haben, das Gas darunter zu entzünden.
Mit zwei großen Schritten war er am Herd und drehte das Gas ab. Er hatte kaum die Tür zu seinem Zimmer geöffnet, als er auch schon
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