Germania: Roman (German Edition)
Blätter. Während sich die umliegenden Häuser bereits schemenhaft abzeichneten, war der Leichnam immer noch in Dunkel gehüllt. Oppenheimers Verstand ordnete die Fakten, während um ihn herum allmählich das Leben erwachte.
Ahnungslos, dass nebenan etwas Grässliches geschehen war, schlummerten die Anwohner einen seligen Schlaf, den zur Abwechslung einmal kein Fliegeralarm gestört hatte. Andere standen gewohnheitsmäßig zu dieser frühen Stunde auf, obwohl sie heute nicht zur Arbeit gehen mussten, schlurften zur Toilette oder bereiteten ihr Frühstück zu. Die Dinge gingen ihren gewohnten Lauf wie an jedem beliebigen Sonntag. Obwohl durch die verdunkelten Fenster von all dem nichts zu sehen war, konnte Oppenheimer deutlich spüren, wie sich die Anwohner langsam zu regen begannen. Nicht weit von ihnen entfernt knatterte das erste Fahrzeug vorbei, doch das Geräusch verhallte zwischen den Häuserfronten. Nicht mehr lange, dann würden die ersten Kirchgänger zur Morgenandacht kommen. Und um zur Kirche zu gelangen, würden sie genau auf diesen Platz zusteuern.
»Und was ist Ihre Schlussfolgerung?«
Voglers Stimme riss Oppenheimer aus seinen Gedanken. Mittlerweile waren zwei weitere Männer mit einer Zinkbahre aufgetaucht, um die Leiche zu entfernen. Die anderen scharrten unruhig mit den Füßen. Nur Vogler stand regungslos da und fixierte Oppenheimer. Verlegen räusperte sich dieser. Seine jahrelange Erfahrung half ihm, sich nicht vollends zum Trottel zu machen und seine Beobachtungen mit knappen Worten zusammenzufassen.
»Auf den ersten Blick würde ich sagen, dass sie nicht an dieser Stelle getötet wurde. Hier gibt es kaum Blut. Auf der Unterseite des Rocks befinden sich nur einige wenige Flecken, ansonsten noch in unmittelbarer Nähe der Wunde, und das war’s auch schon. Kein Blut auf dem Boden, keine Blutspuren in der Umgebung, nein, sie wurde woanders getötet und später hierhergebracht. Die Art und Weise, in der die Leiche hier präsentiert wurde, habe ich noch nie gesehen. Ich halte es auch für unwahrscheinlich, dass es reiner Zufall ist. Dies hier ist ein öffentlicher Platz. Die Gefahr ist groß, erwischt zu werden. Nein, meine Herren, der Mann, der hierfür verantwortlich ist, hatte sich vorher einen Plan zurechtgelegt. Und er hat ihn bis ins letzte Detail ausgeführt. Erfolgreich, denn sonst wäre jemand auf ihn aufmerksam geworden. Das alles lässt nur eine Schlussfolgerung zu: Ein unvorstellbar kaltblütiger Mensch ist hier am Werk gewesen. Nur jemand mit bestialischen Veranlagungen kann eine Leiche derartig brutal verstümmeln und dann auch noch zur Schau stellen. Ich kann Ihnen keine Hoffnungen machen. Es wird nicht einfach werden, den Täter zu schnappen.«
Die Sirene jaulte ihr langgezogenes Auf und Ab. Das bedeutete Vollalarm. Oppenheimer lief automatisch los, doch er kümmerte sich kaum um die feindlichen Bomber, die im Anflug auf die Stadt waren.
Nachdem er in Oberschöneweide seine Einschätzung des Mordfalles abgegeben hatte, wurde er mit dem Auto wieder in die Innenstadt zurückverfrachtet. Niemand hatte auch nur die geringsten Anstalten gemacht, Oppenheimer die Situation zu erklären, in die er hineingeraten war. Sobald der Voralarm ertönte, hatte ihn der SD-Mann an der Hansabrücke abgesetzt und war mit dem Auto davongerauscht. Das war nicht weiter tragisch, denn das Judenhaus war von dort aus nur noch wenige hundert Meter entfernt.
Oppenheimer hätte nach dieser langen Nacht eigentlich müde sein müssen, doch sein Verstand arbeitete auf Hochtouren. Die Eindrücke wollten ihm nicht mehr aus dem Kopf gehen.
Während er sich seiner derzeitigen Behausung näherte, versuchte er, die Männer einzuschätzen, die ihn am Fundort der Leiche erwartet hatten. Die SS-Männer hatten identische Uniformen getragen, also konnte man davon ausgehen, dass sie beide Hauptsturmführer waren. Was die SS jedoch mit einem Mordfall wie diesem zu tun hatte, konnte Oppenheimer nicht sagen.
Im Gegensatz zu den beiden Hauptsturmführern hatte sein Begleiter vom Sicherheitsdienst schon eher einen Grund, bei einem Leichenfund anwesend zu sein. Bei schweren Gesetzesverstößen waren die Beamten vom SD schnell vor Ort. Dabei hatte diese Organisation ursprünglich nichts mit der Kriminalpolizei zu tun gehabt. Anfangs war der Sicherheitsdienst des Reichsführers-SS nicht mehr als der parteiinterne Nachrichtendienst der NSDAP gewesen, doch nach Hitlers Machtergreifung hatten sich die Grenzen zwischen dem
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